Die Briefe

[2017-10-14]

In einem kleinen Dorf lebte einmal ein Mann, der hatte seit seiner Geburt ein verkrüppeltes Bein. Er konnte nichts dafür, er war ja schon so geboren worden. Aber die Dorfbewohner, die sehr abergläubisch waren, glaubten, dass diese Missbildung einen Grund haben müsse. Schließlich würde Gott sich schon etwas dabei gedacht haben, dass er genau diesem Mann (und nicht ihnen!) diese Verkrüppelung gegeben habe. Also sahen sie sich im Recht, mit Verachtung auf ihn zu blicken und ließen ihn auch bei jeder Gelegenheit spüren, was sie von ihm hielten. Der Mann selbst hielt sich ebenfalls für etwas Minderwertiges, es war schließlich von Anfang an immer so gewesen, er kannte es nicht anders.

Eines Tages trat er in der Früh vor seine ärmliche Hütte, als er auf der Schwelle seiner Tür einen Brief liegen sah. Erstaunt hob er ihn auf, öffnete ihn und las ihn. Da stand nur ein Satz: „Ich sehe dich, hab keine Angst.“ Verwirrt blickte der Mann auf und sah sich um, aber da war niemand. Ohne recht zu wissen, was er von dem Brief halten sollte, legte er ihn in seine Hütte und hatte ihn bald vergessen.

Doch schon am nächsten Tag lag wieder ein Brief vor seiner Türe, in dem stand: „Ich sehe dich. Und was ich sehe, ist gut.“ Der Mann stand ratlos da und fragte sich, wer diese Briefe wohl geschrieben haben könnte, aber er hatte keine Ahnung. Also legte er den Brief zu dem anderen und machte sich wieder an sein Tagwerk. Er verrichtete niedrige Dienste für die Reichen des Dorfes, so bekam er wenigstens genug zum Überleben. Aber die Sache mit den Briefen hörte nicht auf. Jeden Tag in der Früh lag wieder einer da. Und jedes Mal stand etwas drin, was dem Mann Mut machte. Immer stand etwas drin, was ihm zeigte, dass da irgendwo jemand war, dem er nicht egal war.

Und der Mann stellte fest, dass das ein schönes Gefühl war. Auch wenn er den Absender der Briefe nicht kannte und auch nicht herausfinden konnte, wer es war, tat es doch gut, zu wissen, dieser Jemand war da. Auf einmal hatte er durch diese Briefe das Gefühl, nicht ganz allein zu sein. Seine Arbeit fiel ihm nun jeden Tag ein wenig leichter. So manche Geste der Verachtung von den anderen Dorfbewohnern konnte er jetzt besser verkraften, denn er wusste, es waren nicht alle so. Zumindest einer war da, der achtete ihn und sorgte sich um ihn.

Mehrere Monate vergingen und jeden Tag kam einer dieser „Ich sehe dich“-Briefe. Der Mann wurde immer fröhlicher und war nicht mehr so niedergedrückt wie sonst. Er war auch am Abend nicht mehr so müde wie früher. Während er früher sofort schlafen gegangen war, wenn er von seinen mühsamen Arbeiten nach Hause kam, saß er nun noch einige Stunden vor seiner Hütte und schnitzte Holzfiguren. Das bereitete ihm große Freude. Jede fertig geschnitzte Figur stellte er in dem winzigen Garten vor seiner Hütte auf. Zunächst beachteten die Dorfbewohner das gar nicht. Aber nach einiger Zeit fiel es ihnen doch auf. Immer mehr von ihnen schlichen wie zufällig an seiner Hütte vorbei, weil sie von den Figuren gehört hatten und auch davon, dass diese Figuren besonders schön seien. Und in der Tat waren es die schönsten Schnitzereien weit und breit. Eines Tages kam ein Fremder ins Dorf, der war so begeistert von den Figuren, dass er dem Mann sofort einige zu einem hohen Preis abkaufte. Und ehe er abreiste, ging er zum Bürgermeister des Dorfes und sagte zu ihm: „Also ehrlich, Bürgermeister, warum versteckt ihr denn einen so bedeutenden Künstler vor der ganzen Welt? Wenn ich hier Bürgermeister wäre, dann würde ich dafür sorgen, dass alle Menschen von ihm erfahren!“ Mit diesen Worten reiste er ab und ließ den Bürgermeister beschämt stehen.

Aber schließlich erkannte der Bürgermeister die Wahrheit dieser Worte und er sorgte dafür, dass die Kunde von dem Holzschnitzer sich verbreitete. So änderte sich das Leben des verkrüppelten Mannes von Grund auf und er wurde ein wohlhabender Künstler und all seine Sorgen hatten ein Ende. Er aber wurde nicht überheblich, sondern blieb stets bescheiden und dankbar für die wundersame Wendung, die sein Leben genommen hatte.

Einige Zeit später fand er das erste Mal keinen Brief mehr vor seiner Tür. Statt eines Briefes lagen dort nun ein Stapel Briefpapier, ein Fass Tinte und eine Schreibfeder. Der Mann verstand sofort. Er lächelte, hob alles auf und trug es in seine Hütte.

Hartmut Schwaiger