Dass dich des Tages die Sonne nicht steche

Hon. Prof. Dr. Michael Bünker (Bild: Evangelische Kirche A.B. in Österreich)

[2020-03-24]

Den letzten Vortrag der diesjährigen Fastenaktion wollte der frühere evangelische Bischof, Hon. Prof. Dr. Michael Bünker im Neualmer Pfarrzentrum abhalten. Wegen der Absage sämtlicher Veranstaltungen durch die Corona-Krise ist das nun nicht mehr möglich. Wir bedanken uns aber bei Dr. Bünker sehr für die Überlassung seines Konzeptes. Dieses ist umfangreicher als der ursprünglich geplante Vortrag und dort und da wohl auch etwas abweichend. Um sich mit dem Thema auseinanderzusetzen ist er aber hervorragend geeignet.

Einleitung

Dass dich des Tages die Sonne nicht steche, das ist als biblisches Motte über den heutigen Abend gesetzt worden. Die Fortsetzung weist schon auf Ihren nächsten und letzten Abend in der diesjährigen Fastenaktion hin, auf eine abendliche, ja nächtliche Pilgerwanderung auf den Dürrnberg, denn die Fortsetzung heißt: noch der Mond des Nachts. Der Vers ist aus Psalm 121 entnommen, einem der sogenannten Wallfahrtspsalmen, der im Ganzen lautet (ich lese Luthers Übersetzung):

Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen. Woher kommt mir Hilfe? Meine Hilfe kommt vom HERRN, der Himmel und Erde gemacht hat. Er wird deinen Fuß nicht gleiten lassen, und der dich behütet, schläft nicht. Siehe, der Hüter Israels schläft noch schlummert nicht. Der HERR behütet dich; der HERR ist dein Schatten über deiner rechten Hand, dass dich des Tages die Sonne nicht steche noch der Mond des Nachts. Der HERR behüte dich vor allem Übel, er behüte deine Seele. Der HERR behüte deinen Ausgang und Eingang von nun an bis in Ewigkeit!

Der Psalm hat Eingang gefunden in unsere Liturgie, wenn wir bei jedem Aufbruch, also auch vor dem Einzug in die Kirche zum Gottesdienst aus ihm zitieren. Die Berge zu Beginn lassen nicht nur an das judäische Bergland denken, dass die Wallfahrer zum Tempel in Jerusalem durchwandern, sondern – übertragen – auch an alle Hindernisse, Schwierigkeiten und Herausforderungen auf dem Weg. Weder Sonne noch Mond sind freundlich, allein im Schatten Gottes lässt sich gut unterwegs sein. Passend zu unserem Thema ist am Schluss von jedem Ausgang und Eingang die Rede, von jedem Aufbruch und Ankommen, die alle unter der Behütung Gottes stehen. Aber es ist nicht etwas Einmaliges, nicht etwas Besonderes, keine Ausnahme, sondern etwas, das alle Zeit gilt. Von nun an bis in Ewigkeit. Immer. Immer sind wir unterwegs.

Vor Gott gibt es keine andere Form des Daseins als aufbrechen, unterwegs sein und ankommen und das immer so fort. Das Volk Gottes hat hier keine bleibende Stadt, es sucht die zukünftige (Hebr. 13,14). Es ist ein wanderndes Volk, das seine Ruhe (Hebr. 4,9), seine Heimat, seine Bürgerschaft im Himmel findet (Phil. 3,20), also bei Gott. Unser Herz ist unruhig und bleibt unruhig, bis es Ruhe findet in Gott (Augustinus, Bekenntnisse I,1). Auf diesem Weg hat das Volk nichts anderes als das Verheißungswort Gottes. Wie Abraham und Sara aufgebrochen sind aus der vertrauten Heimat in ein ihnen völlig unbekanntes neues Land, allein im Vertrauen auf das Wort Gottes, das ihnen gesagt worden ist.

Das ist gleichsam die Hintergrundstrahlung, vor der wir auch über den modernen Boom des Pilgerns nachdenken, wenn wir es auf biblischer Grundlage tun wollen.

ÖRK: „Pilgerweg der Gerechtigkeit und des Friedens“

Bild: Evangelische Kirche A.B. in Österreich

Diese biblisch fundierte Hintergrundstrahlung kann auch erklären, wieso der Ökumenische Rat der Kirchen, also die weltweite Ökumene, 2013 auf seiner Vollversammlung in Busan (Südkorea) alle Kirchen, alle Christinnen und Christen sowie alle Menschen guten Willens zu einem „Pilgerweg der Gerechtigkeit und des Friedens“ aufgerufen hat. Das Wort „Pilgerweg“ wurde gewählt, um auszudrücken, dass es sich um einen Weg mit einer tiefen spirituellen Bedeutung und mit hochtheologischen Konnotationen und Auswirkungen handelt. Als „Pilgerweg der Gerechtigkeit und des Friedens“ ist es weder ein Weg hin zu einem konkreten Ort auf der Landkarte, noch eine einfache Form des Aktivismus. Es ist sich vielmehr ein verwandelnder Weg, zu dem Gott aufgerufen hat, in Erwartung des letztlichen Ziels für die Welt, das der dreieinige Gott bewirkt. Die Bewegung der Liebe, die Teil des Wesens des dreieinigen Gottes ist, wird in der Verheißung von Gerechtigkeit und Frieden offenbar. Sie sind Zeichen des kommenden Reiches Gottes, das bereits im Hier und Jetzt sichtbar ist, wenn es Versöhnung und Heilung gibt.

Die Christen sind aufgerufen, an diesen Zeichen von Gottes Reich teilzuhaben und für sie zu kämpfen, als Antwort auf Gottes Willen und Verheißung. Der Pilgerweg der Gerechtigkeit und des Friedens gründet demnach in Gottes eigener Mission für die Welt und im Vorbild Jesu. Jesus nachzufolgen bedeutet, ihn überall da anzutreffen, wo Menschen Opfer von Ungerechtigkeit, Gewalt und Krieg sind. Gottes Gegenwart zusammen mit den schwächsten Menschen, den Verwundeten, den Marginalisierten zu spüren ist eine verwandelnde Erfahrung. Christen sind durch den Geist lebendig gemacht und entdecken ihre tief verankerte Kraft und Energie zur Verwandlung einer ungerechten Welt. Zusammen mit anderen Glaubensgemeinschaften und allen Menschen guten Willens sind sie gemeinsam unterwegs.

Dabei wird auch Grundsätzliches zum Pilgern gesagt: Pilgerinnen und Pilger, die unterwegs sind, reisen mit leichtem Gepäck und lernen, dass nur das Wesentliche und Notwendige zählt. Sie sind offen für Überraschungen und bereit, durch Begegnungen und Herausforderungen auf ihrem Weg verwandelt zu werden. Alle, die mit offenem Herzen und offenem Geist mit uns gehen wollen, sind willkommene Gefährten (mit denen wir unser Brot teilen). Der Pilgerweg verspricht, ein verwandelnder Weg zu sein, auf dem wir uns selbst in neuen Beziehungen der Gerechtigkeit und des Friedens neu entdecken können.

Dazu werden drei Elemente benannt, die einen Pilgerweg ausmachen und die sich, wenn wir das Pilgern recht, also im biblischen Sinn eines Verheißungsweges, verstehen wollen, auch auf jedem Pilgerweg in unterschiedlicher Ausprägung und Gewichtung finden lassen sollen.:

Die Gaben feiern (via positiva)

Wir sind nicht mit leeren Händen oder alleine unterwegs. Der „ursprüngliche Segen“, nach dem Bilde Gottes geschaffen und zusammen – in Gemeinschaft – zu sein, ist, dass wir ein einzigartiger Bestandteil des Lebensnetzes sind, das uns in Erstaunen versetzt. Gemeinsam feiern wir Gottes großartige Gabe des Lebens, die Schönheit der Schöpfung und die Einheit einer versöhnten Vielfalt. Wir fühlen uns ermächtigt von dieser Gnade, an Gottes Bewegung der Liebe, der Gerechtigkeit und des Friedens teilhaben zu dürfen.

Sich mit den Wunden beschäftigen (via negativa)

Der Pilgerweg wird uns an Orte führen, an denen schreckliche Gewalt und Ungerechtigkeit herrschen. Wir wollen auf Gottes menschgewordene Gegenwart inmitten des Leids, der Exklusion und der Diskriminierung schauen. Die wahre Begegnung mit realen, kontextabhängigen Erfahrungen einer zerbrochenen Schöpfung und des sündigen Gebarens gegenüber anderen Menschen kann uns an das Wesentliche des Lebens selbst erinnern. Es kann dazu führen, dass wir Buße tun und uns – in einem Prozess der Reinigung – von der Besessenheit mit Macht, Besitz, Ego und Gewalt befreien, so dass wir Christus immer ähnlicher werden.

Ungerechtigkeit verwandeln (via transformativa)

Wenn wir selbst verwandelt werden, kann uns der Pilgerweg zu konkretem Handeln für Verwandlung führen. Wir können vielleicht den Mut aufbringen, in wahrem Mitgefühl für einander und für die Natur zu leben. Dazu gehört auch die Stärke, allem Bösen zu widerstehen – aller Ungerechtigkeit und aller Gewalt, auch wenn eine Kirche in einer Minderheitssituation lebt. Wirtschaftliche und ökologische Gerechtigkeit sowie die Heilung der Verwundeten und das Streben nach friedlicher Versöhnung ist unser Auftrag – in jedem Kontext. Wir lassen uns verwandeln durch unser Gebet und unser Handeln im Gebet.

In Österreich wurde dieses Anliegen umgesetzt im „Ökumenischen Klimapilgerweg“, der 2014 von Wien nach Salzburg führte.

Die Reformation

Sie haben über die biblischen Grundlagen und die historischen Entwicklungen zum Pilgern schon aus kompetentem Munde ausführlich gehört, das kann ich hier alles voraussetzen und komme gleich zur Kritik der Reformation am Pilgern der damaligen Zeit, konkret geht es um Martin Luther und seine Beschäftigung mit dem Thema. Mit seiner Kritik hat Martin Luther aber vor allem den „Ablass“ der damaligen Kirche im Blick gehabt, dass man also mit Geldleistungen, durch Pilger- und Bußgänge sich ein Stück vom himmlischen Seelenheil erkaufen könne.

Zuerst ist er kritisch allen Wallfahrten gegenüber, vor allem gegenüber denen nach Rom, wo er selbst 1510/11 gewesen war. In der Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung“ von 1520 sagt er:

„Zum zwelfften, das man die walfarten gen Rom abethet … das sag ich nit darumb, das walfarten bosze seyn, szondern das sie zu disser zeit ubel geratten, dan sie zu Rom kein gut exempel, szondern eytel ergerniß sehen, unnd wie sie selb ein sprichwort gemacht haben ‚Yhe nehr Rom, yhe erger Christen‘, bringen sie mit sich vorachtung gottis und gottis geboten.“ (WA 6,437, Z.1-8)

In seiner Predigt am Jakobstag am 25. Juli 1522 geht er direkt auf Santiago de Compostela ein. Er wendet sich gegen die Reliquienverehrung und vor allem gegen die Fürbitte der Heiligen. Christus ist der einzige Mittler.

„Wie er in Hispaniam kommen ist gen Compostel, da die groß walfart hin ist, da haben wir nu nichts gewiß von dem: etlich sagen, er lig in Franckreich zu Thalosa, aber sy seind jrer sach auch nit gewiß. Darumb laß man sy ligen und laufft nit dahin, denn man waißt nit ob sant Jacob oder ain todter hund oder ain todts roß da ligt … Darum laß predigen wer da will, laß ablaß ablaß sein, laß raisen wer da will, bleib du dahaim.“ (WA 10/3, 235, Z. 8-17)

In einer späteren Fassung der „Festpostille“ von 1527 setzt er hinzu:

„Wie er in Hispaniam kommen ist gen Compostel, da die groß walfart hin ist, da haben wir nu nichts gewiß von dem: etlich sagen, er lig in Franckreich zu Thalosa, aber sy seind jrer sach auch nit gewiß. Darumb laß man sy ligen und laufft nit dahin, denn man waißt nit ob sant Jacob oder ain todter hund oder ain todts roß da ligt … Darum laß predigen wer da will, laß ablaß ablaß sein, laß raisen wer da will, bleib du dahaim und warte deiner narung, versorge deyn hauß unnd hilff mit dem selbigen gelte, das du allso unnützlich verzerest, deynem nechsten der es bedarff.“ (WA 17/2, 465 Anm. 17)

Wallfahrt zwecks Heilserwerb leugnet Gottes Erlösungsvollmacht. Daher sind getane Gelübde hinfällig. Luther in derselben Predigt:

„Hat aber yemant ein gelübd gethan, zu Sant Jacob zu raysen oder an andere orte, der lassz es hinfaren. Es ist ein gelübd wider deyner seelen seligkayt, denn got hat kein gefallen in den narrenwercken noch nach solchen gelübden, doch solt du solch dein nerrisch und ungotlich gelübd berewen und Got umb gnade bitten, das er dir solche unwyssenheyt und unglauben wölle verzeyhen. Denn Gott will jm nit gehandelt haben mit wercken, sondern allain mit dem glauben.“ (WA 17/2, 465)

Das Wallfahren spricht auch gegen die Alltagsorientierung lutherischer Frömmigkeit. Der Christ soll sich in Beruf, Familie und Gesellschaft bewähren und nicht aus dem Alltag fliehen. In den Schmalkaldischen Artikeln von 1537 schreibt Luther:

„Nu ist das ja gewiß, daß solch Wallfahrten uns nicht gepoten, auch nicht vonnoten, weil wir’s wohl besser haben mugen und ohn alle Sunde und Fahr lassen mugen. Warumb läßt man denn daheimen eigen Pfarr, Gottes Wort, Weib und Kind etc., die notig und geboten sind, und läuft den unnotigen, ungewissen, schädlichen Teufelsirrwischen nach, ohn daß der Teufel den Bapst geritten hat, solchs zu preisen und bestätigen, damit die Leute ja häufig von Christo auf ihr eigen Werk fielen und abgottisch wurden, welchs das Ärgste dran ist?“ (BSLK 422,10-18)

Das Wort Gottes findet man in der eigenen Gemeinde. Ihr soll der Christ treu zugetan bleiben und nicht Gottes Wort oder die Kirche anderswo suchen.

„Aber die Papisten schreien darwidder und sprechen: Ej, wiltu die kirche finden, so lauffe zu S. Jacob, gehe gen Ach, gehen Trier, da unsers herrn Christi rock sein sol, gehen Jherusalem zum Heiligen grab, gehen Rohm zu S. Peter und Paul, gehen Loreth zu S. Maria oder zur Maria gehn Regensburg oder zur Eichen, wie den der Walfart keine gewisze Zahl gewesen ist. alles darumb, das man vergebung der sunden erlange, die der Bapst in diese orth gesteckt hat. Antwortte du aber also drauff: Hore, du wirst keinen bessern schatz finden daselbst, dan du albereit daheim in deiner pfarkirchen hast. Jha es ist dort bej den walfartten alles verfelschet, und ist des Teufels religion, da ist keine Tauffe, kein abendmal, vergebung der sunde noch Euangelium, das man von diesen Stucken lehrete.“ (WA 47, 393, Z. 7-17)

Seither hat man das Pilgern in der evangelischen Kirche nahezu komplett vergessen und man hat das Pilgern weitgehend abgelehnt. Allenfalls haben sich evangelische Christen auf Studien-, Bildungs- oder Gemeindereisen begeben. Aber Pilgern? Das war lange Zeit unter Evangelischen verpönt.

Dabei gibt es einige gute Gründe, zu pilgern, gerade wenn man evangelisch ist:
Pilgern ist ein Weg mit Gott. Beim Pilgern wird der Start mit einem Segen begonnen, der Weg mit Gebeten und spirituellen Impulsen begleitet und das Ziel mit dem Nachdenken über Glauben und den Sinn des Lebens bewusst verbunden. Egal, ob man sich nun alleine auf den Weg macht, oder ob man sich einer Pilgergruppe anschließt oder einem erfahrenen Pilgerbegleiter oder einer erfahrenen Pilgerbegleiterin anvertraut.

Für Evangelische ist die Bibel, die Heilige Schrift von elementarer Wichtigkeit. Und wer die Bibel aufschlägt, entdeckt, dass sie voller Weg- und Pilgergeschichten ist: Im zweiten Buch Mose wird von der Glaubenserfahrung der Israeliten berichtet, wie Gott durch Mose das Volk Israel aus der Sklaverei in Ägypten auf einen Weg in die Freiheit geführt hat. Solche Texte können nachdenklich machen, gerade wenn man selbst auf der Suche nach Freiheit ist! Und weiter wird berichtet, wie Gott die Israeliten mit den Möglichkeiten, die sich in der Wüste boten, vor dem Verhungern und dem Verdursten bewahrt hat. Und die Propheten erzählen später von ihrer Hoffnung, dass über religiöse Grenzen hinweg alle Völkern einmal zum heiligen Berg Zion wallfahren, zu dem Berg, auf dem der Jerusalemer Tempel steht, um dort gemeinsam Gott anbeten. Von Jesus und seinen Jüngern wissen wir, dass sie ihrem Herrn wandernd in Galiläa und Judäa nachfolgten und sogar zu den bekannten jüdischen Wallfahrtsfesten nach Jerusalem gepilgert sind. An einem Passahfest (dem Fest der Befreiung aus Ägypten) besuchte der 12-jährige Jesus den Tempel (Lukasevangelium 2,41) und an einem Passahfest zog er nach Jerusalem, wurde dort gekreuzigt und ist auferstanden (Markus 14,1+12).

Der Weg des Buches

Bild: Evangelische Kirche A.B. in Österreich

Stellt euch vor: Eine Familie sitzt zu Hause. Es ist schon länger her, daher kein Fernseher. Der Vater sitzt mit den Kindern  um den Tisch. Es sind Bauern, daher sind auch Knechte und Mägde anwesend. Die Mutter steht an der Arbeitsfläche, sie ist damit beschäftigt, Brot zu backen. Gerade knetet sie den Teig, einige Teigstücke liegen da und rasten. Der Backofen ist schon geheizt, die Wärme wird gleich genau richtig sein, um das Brot „einschießen“ zu können. Die um den Tisch sitzen, lesen aus einem Buch. Es geht immer rundherum im Kreis, jeder und jede liest ein Stückchen, einen Absatz. Auch die Kinder, auch das Gesinde. Alle können lesen.

Die Vorhänge sind zugezogen. Da hört man von draußen Lärm: Es kommt wer, Reiter sind es, schon sind sie vor dem Hof, gleich werden sie hereinkommen! Alle durchzuckt es ganz heiß! Das Lesen in Büchern war verboten.
Der Besitz von Büchern war verboten. Wer damit erwischt wurde, wurde schwer bestraft. Wenn es nur eine Geldstrafe war, hatten die Betroffenen noch Glück. Es konnte auch schlimmer kommen. Der Vater im Gefängnis, und dann deportiert irgendwohin an die Grenze, wo gerade der Krieg aus war, Frau und Kinder mussten womöglich da bleiben, die Kinder kamen zu anderen Leuten, die in den Augen der Obrigkeit, der Herrschaft verlässlicher waren.

Verstecktes Gesangbuch in einem Baum (Bild: Evangelische Kirche A.B. in Österreich)

Das gefährliche Buch war nichts anderes als die Bibel, zumeist in der Übersetzung Martin Luthers, also „die ganze Heilige Schrift“, wie es oft auf den Titelblättern hieß. Und wo war das? Das war hier bei uns, vielleicht irgendwo in Oberösterreich, in Kärnten, im Murtal, im Salzkammergut vielleicht, in Goisern, Hallstatt oder Bad Ischl oder auch hier im Schatten des Dürrnbergs.

Und wann war das? Es ist schon lange her. Vor mehr als 200 Jahren. Für Evangelische ist es die Zeit des Geheimprotestantismus, die rund im Jahr 1600 begonnen hat (Bischof Martin Brenner).und erst mit dem Toleranzedikt von Kaiser Joseph II. vom 13. Oktober 1781 zu Ende gegangen ist. Der Zeitraum umfasst also rund sechs Generationen, in denen der evangelische Glaube ohne jede kirchliche Organisation, ohne Pfarrer oder Lehrer weitergegeben und gelebt wurde. Im Kern handelte es sich um eine individuell oder familiär gelebte Lesefrömmigkeit. Die Evangelischen waren also auf Bücher, die Bibel, Postillen (also Predigtsammlungen), Gebets- und Gesangsbücher angewiesen.

Zurück zu unserer Familie: Was kann jetzt geschehen? Normalerweise ist die Bibel draußen im Stall versteckt, oben in den Balken des Dachstuhls. Aber hier in der Küche? Wo soll man sie so schnell verstecken? Schon hört man die Tritte der bewaffneten Soldaten im Vorraum des Hauses. Gleich wird die Türe aufgerissen werden.

Die Geschichte der Evangelischen in Österreich ist auch eine Geschichte der verbotenen Bücher. Auf geheimen Wegen wurden sie ins Land geschmuggelt. Seit dem Ende des 16. Jahrhunderts bis zum Toleranzpatent Joseph II 1781 gab es diesen Strom der Untergrundliteratur von den Druckereien in Württemberg oder in Franken ins Land gebracht, in Fässern versteckt, oder auf dem Rücken, auf der Kraxen getragen, von professionellen Kleinhändlern und Schmugglern, von Markt zu Markt, von Hof zu Hof. Gleichzeitig die ständigen Versuche der Obrigkeit, die Bücher aufzuspüren und zu vernichten. Wer lesen konnte, war automatisch der Ketzerei verdächtig.

Bild: Evangelische Kirche A.B. in Österreich

Es waren Bauern, zumeist in abgelegenen Tälern, die auf ihren Höfen die Bücher verwendeten. Aus Angst vor der Polizei, auch vor Denunziation, versteckten sie die Bücher. Es ist abenteuerlich, die Aufzählung der Bücherverstecke in den Polizeiprotokollen zu lesen. Unterm Herd, im Strohsack, irgendwo auf der Alm, im Stall, im Tenn, im Heu, bei den Pferden, im Bienenstock, ja sogar im Butterrührkübel, überall waren die Bücher. Zehntausende Bücher sind gefunden und verbrannt worden, viele sind erhalten geblieben, nicht nur im Museum, sondern bis heute in den Häusern, in den Familien in Verwendung. Wer weiß, wie viele noch versteckt sind weil sich niemand der Orte erinnert, an denen sie aufbewahrt wurden?

Am Abend, beim Dunkelwerden, saßen die Hausleute beisammen und der Bauer las aus dem Buch. Mehr als eine Kerze wird wohl nicht gebrannt haben. Die Vorhänge waren zugezogen. Man wusste ja nie, wer vorbei kommt und sich wundert, wieso da noch Licht ist, und außerdem die Nachbarn… Aber die Dunkelheit hatte für diese Menschen nichts Furchterregendes. Einer von ihnen sagte im Rückblick: „Die Bücher waren unser Licht.“

Warum er denn so störrisch an seinen Büchern hänge und sie nicht freiwillig herausgebe, wie es die anderen lutherischen Sektierer doch auch täten, wurde ein Bauer Mitte des 16. Jahrhunderts in der Nähe von Kitzbühel im Verhör gefragt. Wir sind mitten in einer großangelegten Polizeiaktion auf der Suche nach den verbotenen Büchern, um der evangelischen Ketzerei den Boden zu entziehen. Nächtliche Razzien und Denunziationen gehörten ebenso dazu wie der Einsatz von polizeilicher Gewalt. Der Erfolg schien den Bücherjägern Recht zu geben. Mehrere zehntausend Bücher wurden eingesammelt und verbrannt, sie sind nach Meinung der Obrigkeit zu nichts anderem gut, als das man ein Sonnwendfeuer mit ihnen mache. Eine unselige Tradition der Zensur, der Gedankenpolizei, der Bücherverbrennung, die hier ihren Anfang genommen hat.

Nun zurück zu unserem Bauern. Sein Name ist überliefert, er hieß Christoph Linsegger und wusste wohl um die Folgen, wenn er sich nicht gehorsam zeigen sollte. Dennoch: Nein, sagte er, er werde die Bücher niemals von sich aus hergeben, denn – und jetzt kommt die Begründung – mit ihnen speise er seine Seele.
Über diesen Satz bin ich gestolpert. Die Bücher, allen voran die Bibel, die Heilige Schrift, als Speise und Nahrung für die Seele.

„Christus ist für die Armen vorzugsweise Erlöser wordn und aus jeder Seite der hl. Schrift lacht üns sein Lieab entgegen, und jetzt verstehn mirs erst, was hoaßt: Kimm und kost, wie guet der Herr ist.“

Diese Worte stammen aus einer Predigt, die hier in der Nähe gehalten wurde. Vielleicht am Hollereckboden bei Wagrain im Jahr 1731. Von Hannß Moßegger, ein fünfzigjähriger Zimmermann aus Wagrain, der immer wieder predigte, für ein Mittagessen oder ein Glas Branntwein. Er war als Bücherschmuggler, als Kraxentrager, bekannt. Noch im September 1731 wurde er verhaftet. Er starb schon ein Jahr später, 1732, in Altenburg, in der Fremde. Wie viele andere musste er seine Heimat verlassen.

Die Predigt des Moßegger lesen wir heute wohl auch als sympathisches Dokument für die Frömmigkeit der hiesigen Evangelischen. Es war eine Frömmigkeit des Lesens, des Wortes, der Schrift.

„O, wie a schöne Zeit haben wir ghabt! Mit dem Evangeli und der hl. Schrift sind wir schlafn ganga, die Senndrin, der Hirte hats auf d’Alma gnumma, der Holzknecht in den Wald, der Jager auf die Bürsch, die hl. Schrift war ünser Geschichtenbuech, ünser Heil und Glück, ünser Segen, Freud und Lust.“

Zitiert nach: Gerhard Florey, Predigt eines Salzburger Prädikanten aus dem Jahre 1731, JGPrÖ 97 (1981) 135-146

Bild: Evangelische Kirche A.B. in Österreich

Bis heute zeichnet diese Bindung an die Bibel, die Heilige Schrift, das Wort Gottes, den evangelischen Gottesdienst, den Unterricht und die persönliche Frömmigkeit, die Andacht, aus. Es sind diese Erinnerungen, die an vielen Orten noch sehr lebendig sind, die dem Weg des Buches sein Gepräge geben. Für das 19. Jahrhundert berichtet der Kärntner Bauernsohn und spätere Lehrer Michael Unterlercher, wie lebendig diese Tradition bei ihnen daheim am Hof, dem Pließnig am Blaas bei Wiedweg, gewesen ist: Zum Ostersonntag 1867 steht in seinen Lebenserinnerungen („In der Einschicht“):

„ ‘n Oastersunntig wert nachn Hausgottesdeanst, das is nachn Prödiglesn, Betn und Heilige-Liader-Singen, a bsunders guats Essn afn Tisch gstöllt: Rahmsuppn, Fleisch, Bratl, Kraut, Kreansoß, Krapfn, alls miglane und unmiglane Guate. Nachn Essn geaht nacher aniads mit an Buach in sei Winkele, der alte Matl mit Luthers Hauspostille, der Vater mit Arndts ‚Wahrem Christentum‘, die Schwöster mitn Gsangbuach. Gar der junge Matl nimmp a Gebetbüachl, wann ers a oft umgekehrter vor seinder hat. Es is still in ganzn Haus.“

Nun zurück zu unserer Familie: Wie geht die Geschichte weiter? Gleich wird die Türe auffliegen. Da packt die Mutter entschlossen die Bibel, und wickelt sie mit dem Brotteig ein und schiebt diesen ganz besonderen Laib in den Backofen.

Gerade zieht sie den Laden heraus, fliegt auch schon die Türe auf: Was macht ihr da? Gebt die Bücher heraus! Aber es ist kein Buch zu finden. Ohne Erfolg müssen die Soldaten wieder abziehen. Diesmal ist es gut ausgegangen. Die Mutter holt das Brot heraus, darunter auch den Laib mit dem eingebackenen Buch. Sie brechen die Brotrinde rundherum auf, essen dabei vom frischen, warmen duftenden Brot. Und dann kommt sie zum Vorschein, eine schöne kleine Bibel. Noch ist sie ein bisschen heiß vom Backofen, aber sie hat gut zum Brot gepasst. Beides nährt. Das eine den Leib, das andere die Seele.

Von solchen Leuten und ihrer Geschichte erzählt der Weg des Buches. Der Weg des Buches ist ein Weitwanderweg quer durch Österreich, von Nord nach Süd, auf den Spuren der Bibelschmuggler aus der Zeit des Geheimprotestantismus. Dabei verschwimmt die Grenze zwischen Pilgerweg und Themenweg. Der Weg beginnt in Schärding an der bayerischen Grenze und führt in 29 Tagesetappen über das Salzkammergut, den Dachstein, die Kärntner Nockberge bis an die slowenische Grenze nach Arnoldstein. Ein Weg zum Nachdenken, zum Pilgern, zum Lesen in der Bibel – es ist der Weg des Buches.

Bild: Evangelische Kirche A.B. in Österreich

Mittlerweile ist er deutlich verlängert worden, einmal nach Süden bis nach Triest und geht dabei den Spuren der slowenischen Reformation nach, die sich mit dem Namen Primoz Trubar bis heute im Gedächtnis der Menschen verbunden hat. Slowenien ist das einzige Land Europas, in dem der Reformationstag Nationalfeiertag ist, obwohl es dort nur ganz wenige Evangelische gibt. Es ist auch das einzige Land der Eurozone, das einen Reformator auf der Ein-Euromünze abgebildet hat. Es ist die Dankbarkeit für die Bibelübersetzung ins Slowenische, durch die erst die slowenische Kultur entstehen konnte. Die Verlängerung des Weg des Buches von Villach nach Triest in 18 Tagesetappen ist benannt nach der Gründerin der diakonischen Einrichtungen in Treffen in Kärnten, die Gräfin Elvine de la Tour. Ein eigener Primoz Trubar Weg wird von slowenischen Trägereinrichtungen als Radweg von Murska Sobota nach Triest eingerichtet.

Von Schärding ist der Weg des Buches nach Norden verlängert worden, über den Bayerischen Wald und einem kleinen Abschnitt in Tschechien (bei Eger) bis nach Zwickau, wo unser Weg des Buches auf den Lutherweg trifft und damit bis zur Wartburg führt. Dort hat ja Martin Luther im Jahr 1521 mit seiner Bibelübersetzung begonnen.

Der Weg des Buches ist natürlich nicht der einzige evangelische Pilgerweg, der in den letzten Jahren entstanden ist. In Norwegen gibt es den Olavweg, in Deutschland den Brigittaweg und natürlich den Lutherweg, besser soll ich sagen: Ein ganzes Netz von Lutherwegen und – als einen der ersten – den ökumenischen Pilgerweg von Loccum nach Volkenroda.

Der „Lutherweg Sachsen-Anhalt“ wurde 2008 eröffnet und führt 400 Kilometer lang von Wittenberg über Eisleben nach Mansfeld.

Weniger Jahre später kam es zur Eröffnung des „Lutherwegs Sachsen“, der mehr als 500 Kilometer lang ist und von Torgau über verschiedene Stationen nach Leipzig führt.

Unter anderem führt er auch durch Zwickau, wo unser „Weg des Buches“ auf den Lutherweg trifft.
Der „Lutherweg 1521“ wurde im Mai 2017 eröffnet. Er führt über rund 400 Kilometer von Worms zur Wartburg, geht also den Spuren der Reise nach, die Luther nach dem Reichstag von Worms im April 1521 auf sein Versteck auf der Wartburg geführt hat.

Der „Lutherweg Thüringen“, stolze 1000 Kilometer lang, folgt im Kern dem Weg, den Luther 1537 nach dem Treffen des Schmalkaldischen Bundes wieder nach Wittenberg genommen hat. Er reicht im Süden mit der Veste Coburg bis nach Bayern.

Schmugglerbibel (Bild: Evangelische Kirche A.B. in Österreich)

Ein anderer evangelischer Pilgerweg ist der Weg der Hugenotten und Waldenser. Der Wanderweg möchte auf das historische Exil der Hugenotten und Waldenser hinweisen und ihre schrittweise Integration in die Gastländer in Erinnerung rufen, einer Komponente unserer gemeinsamen europäischen Geschichte und unseres kulturellen Erbes. Er unterstreicht auch die europäischen Kernwerte Freiheit, Achtung der Menschenrechte, Toleranz und Solidarität. Diese Route beginnt entweder in den Cevennen oder im Piemont und führt 2000 Kilometer über Genf nach Deutschland, wo die Vertriebenen letztlich Aufnahme gefunden haben.

Seit einigen Jahren bemühen sich all diese Initiativen, als „European Cultural Routes“ vom Europarat anerkannt zu werden. Das Kulturroutenprogramm wurde 1987 vom Europarat mit der Erklärung von Santiago de Compostela (!) ins Leben gerufen. Indem die Kulturrouten des Europarates Menschen und Orte in Netzwerken gemeinsamer Geschichte und gemeinsamen Erbes zusammenführen, laden sie ein zu reisen und das reiche und vielfältige Erbe Europas zu entdecken. Sie hauchen den Werten des Europarates – Menschenrechte, kulturelle Demokratie, kulturelle Vielfalt, gegenseitiges Verständnis und grenzüberschreitender Austausch – Leben ein: Mehr als 30 Kulturrouten des Europarates bieten allen Bürgern Europas und darüber hinaus reichhaltiges Erholungs- und Bildungsprogramm an, und bilden eine Schlüsselressource für verantwortlichen Tourismus und nachhaltige Entwicklung. Sie decken eine Vielzahl von Themen ab, von Architektur und Landschaft bis zu religiösen Einflüssen, von Gastronomie und immateriellem Erbe bis zu wichtigen Figuren der europäischen Kunst, Musik und Literatur.

Schon 1987 wurden die Jakobswege nach Santiago de Compostela als ECR zertifiziert. Routen des jüdischen und maurischen Erbes von Al-Andalus gehören ebenso dazu wie Routen um Mozart, Robert Louis Stevenson, St. Martin, den Zisterziensern, den Iroschottischen Mönchen, dem Eisernen Vorhang, der Industrialisierung und viele andere.

2010 wurde der Olavsweg als ECR zertifiziert. Olav II. Haraldsson, später bekannt als Sankt Olav, war ab 1015 König von Norwegen. Nach seinem Tod in der Schlacht von Stiklestad im Jahr 1030 wurde er zum Märtyrer und Heiligen erklärt, was zur Verbreitung seines Mythos beitrug. Bald wurde er als Heiliger verehrt und zahlreiche Pilgerwege aus ganz Europa, auch aus dem Heiligen Land (es gibt ein Bild von Olav in der Geburtskirche von Bethlehem von 1160 n.Chr.), führten zu seinem Grab. Für Jahrhunderte reisten Pilger nach seinem Tod durch Skandinavien entlang der Routen, die zur Nidaros-Kathedrale in Trondheim führten, in der Sankt Olav begraben wurde. Dieses Pilgern kam mit der Reformation, ca. 1540, zu einem Ende bis es in unseren Tage wiederbelebt wurde.

Der heutige Birgitta Pilgerweg verläuft von Sassnitz auf Rügen über die Hansestadt Stralsund, Güstrow, die mecklenburgische Landeshauptstadt Schwerin weiter nach Zarrenthin bis nach Niedersachsen. Vorbei an Meisterwerken der Backsteingotik, durch das Sternberger Seenland und zu ehemaligen Klöstern – so vermutet man die Pilgerroute der Heiligen Birgitta im Jahr 1341. Die Heilige Birgitta, Begründerin des nach ihr benannten Erlöserordens, begab sich 1341 gemeinsam mit ihrem Mann Ulf auf Pilgerreise von Schweden nach Santiago de Compostela. Dabei durchquerte sie das heutige Mecklenburg-Vorpommern. Die damaligen Pilger orientierten sich an Wallfahrts- und Kraftorten, wie dem Antoniter-Hospital und Kloster Tempzin oder den Domen in Güstrow und Schwerin. Im Jahr 1391 wurde Birgitta von Papst Bonifatius IX heiliggesprochen. Im Jahr 1396 ernannte sie der Papst zur Schutzheiligen von Schweden. Papst Johannes Paul II ernannte sie 1998 zur Schutzpatronin Europas.

2013 wurde der Weg der Hugenotten und Waldenser ins Programm aufgenommen. 1685 begann eine Ära der Verfolgung, nachdem der französische König Ludwig XIV. das Edikt von Nantes widerrufen hatte. 200.000 Hugenotten suchten Zuflucht in den protestantischen Ländern Europas und der Welt. Die Waldenser aus den Tälern des Piemonts gingen ebenfalls ins Exil und folgten dem gleichen Weg. Diese ca. 2.000 km lange internationale Route verfolgt den historischen Weg, der während dieses Exils beschritten wurde. Der Weg führt von Südfrankreich über Italien (Piemont) nach Genf und von dort weiter nach Hessen, wo er in Bad Karlshafen, einer hugenottischen Ansiedlung, endet.

Dieser Weg weist eine Ähnlichkeit mit dem Weg des Buches auf: Beide verbinden keine heiligen Orte und führen nicht zu einem Märtyrergrab oder dergleichen, sondern erinnern an historische Erfahrungen in der Folge des reformatorischen Umbruchs in Europa. Sie sind also auch Erinnerungs-und Gedenkwege, die im Zusammenhang stehen mit anderen Routen, auf denen zumeist leidvolle Erfahrungen der Unterdrückung und Diskriminierung, der Deportation und Vertreibung, von Flucht und Exil gemacht wurden.

Ökumenischer Pilgerweg Loccum – Volkenroda

Ein Ökumenischer Pilgerweg der Pilgerweg Loccum – Volkenroda, verläuft von Loccum in Niedersachsen bis nach Volkenroda in Thüringen. Der Pilgerpfad passiert die Orte Hameln, Stadtoldendorf, Uslar und Heiligenstadt und bringt dabei 300 Kilometer hinter sich. Die evangelische Landeskirche eröffnete den Weg im Jahr 2005. Er führt entlang der Weser, der Leine und der Unstrut. Man lernt das Zisterzienserkloster Amelungsborn, den Naturbark Solling und die ehemalige Grenze zur DDR kennen. Der Pilgerweg verbindet die ehemaligen Zisterziensterklöster Loccum und Volkenroda. Es gibt viele weitere Klöster auf diesem Pilgerweg zu entdecken. Sie beheimaten heute unterschiedliche Konfessionen. Es ist historisch nicht belegt, ob der Weg früher tatsächlich durch Mönche benutzt worden ist. Aber es darf als feststehend betrachtet werden, dass die Zisterziensermönche früher die Wege gepilgert sind, die zwischen dem Kloster Loccum und dem Kloster Volkenroda liegen, denn es wurden dazwischen mehrere weitere Zisterzienserklöster gegründet. Der Weg ist mit Wegmarken beschildert und in 17 Tagesetappen unterteilt.

Ökumenischer Pilgerweg Görlitz – Vacha

Dieser Ökumenische Pilgerweg verläuft entlang der historischen Via Regia. Er beginnt in Breslau bzw. Görlitz (polnische Grenze) und führt nach Vacha. Hier schließen sich weitere Pilgerwege an, insbesondere der Jakobsweg, der nach Santiago de Compostela leitet. In Deutschland verläuft der Ökumenische Pilgerweg somit durch die Bundesstaaten Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Er bewältigt eine Strecke von 420 Kilometern Der Weg verläuft durch die Orte Bautzen, Großenhain, Leipzig, Naumburg, Erfurt, Gotha und Eisenach. Verfehlen kann man diesen Pilgerweg nicht, denn er ist mit der Jakobsmuschel beschildert. Auch Pilgerunterkünfte findet man in all diesen Orten, entweder von der Kirchengemeinde oder aber von Privatpersonen. Es handelt sich oftmals um historische Pilgerherbergen. Der Pilgerpfad folgt der alten Via Regia, einer historischen Handelsstrasse im mitteldeutschen Raum. Er ist im Jahr 2003 eröffnet worden.

Alte Pilgerwege werden wiederbelebt, wie die Via Francigena von Canterbury nach Rom, oder die verschiedenen Elisabethpfade, die zum Grab der Heiligen nach Marburg führen.
Neue werden begründet, wie der Benediktweg zu Ehren Papst Benedikt XVI., der als Rundweg mit Ausgangs- und Zielpunkt in Altötting verschiedene Orte, die mit dem Leben Joseph Ratzingers in Verbindung stehen (Marktl usw.) miteinander verbindet.

In Österreich nennt die Website von pilgern.at 21 Pilgerwege, darunter natürlich die verschiedenen Jakobswege, die Wege nach Mariazell, die Hemmapilgerwege im früheren Innerösterreich, also Steiermark, Kärnten (mit dem Zentrum der Hemmaverehrung im Dom von Gurk) und Slowenien, und auch den Weg des Buches mit vielen anderen. Dazu kommen 3 Alpine Pilgerwege, darunter „Hoch und Heilig“, der Osttirol, Südtirol und Kärnten verbindet (Ziel ist Heiligenblut) mit 13 000 Höhenmetern in 9 Etappen sicher eine Herausforderung, und 3 Radpilgerwege, die auch mit dem E-Bike Boom zusammenhängen. Hier wird es in Zukunft sicher mehr geben.

Pilgern ist menschlich

Seit es Menschen gibt, waren sie auch pilgernd unterwegs zu besonderen heiligen Orten und zu besonderen heiligen Zeiten. Schon immer traf man sich an Heiligtümern, um gemeinsam zu beten, zu singen, zu feiern, die Gemeinschaft zu genießen oder auch ein Opfer darzubringen und es zu teilen.
Wer pilgert, bricht auf (manchmal auch aus), ist für eine gewisse Zeit unterwegs und kommt wieder heim. Verändert. Erneuert. Gewandelt.

Wir lauschen der Stimme des anderen Tages,
der in uns beginnt.
Und hören nicht auf zu wandern,
bis wir verwandelt sind.
(Marie Luise Kaschnitz, 1901-1974)

Die Dreistufigkeit der Pilgergrunderfahrung (also Aufbruch, Unterwegssein und Ankommen) zeigt dasselbe Grundmuster wie Übergangsrituale. Übergangsrituale bestehen aus drei Phasen: Trennung, Übergang und Wiedereingliederung. Bei der Trennung erfolgt die Loslösung vom Alltag. Die Identität wird einmal geschwächt, in Frage gestellt, damit etwas Neues entstehen kann. Der Übergang ist meistens ambivalent. Man ist „betwixt and between“, weder-noch, nicht mehr der oder die Alte, aber auch noch nicht neu. Oft gehört zu dieser Phase auch ein besonderes Verhalten: Schweigen, Askese, körperliche Anstrengung. Die schon mit dem Aufbruch einsetzende Schwächung der Identität wird stark gesteigert. Deshalb kann gerade in der Übergangsphase die Gemeinschaft wichtig werden. Sie ist meist anders als die Formen von Gemeinschaft, die aus dem Alltag bekannt sind, also nichthierarchisch und selbstlos.

Solche Übergangsrituale können bestätigend oder verändernd wirken. Das zeigt sich in der dritten Phase, bei der Wiedereingliederung in den Alltag. Mache ich die Pilgerwanderung, um noch fitter und noch besser angepasst in den Alltag zurückzukommen oder riskiere ich eine Verwandlung, die es mir schwer oder sogar unmöglich macht, einfach dort fortzusetzen, wo ich aufgehört habe?

Schon diese ersten Überlegungen machen deutlich, dass der Pilgerweg immer auch in Beziehung steht zum eigenen Lebensweg. In konzentrierter Form lässt uns ein Pilgerweg Erfahrungen machen, die sich in Beziehung setzen zu unseren jeweiligen Lebenswegen. Der wird immer zumindest ein Stück weit, manchmal auch sehr weit, in Frage gestellt. Aber auch umgekehrt: Wenn der eigene Lebensweg schon in Frage steht, kann es gut und hilfreich sein, die konzentrierte Wegerfahrung des Pilgerns zu machen. Ob es jetzt klärend oder eher verwirrend ist, in jedem Fall ist wirkliches Pilgern kein bloßer Freizeitspaß und auch nicht nur eine sportliche Unternehmung. Das sollte man sich gut überlegen, bevor man sich allein oder in einer Gruppe auf den Weg macht.

Bild: Evangelische Kirche A.B. in Österreich

Der Weg des Buches entspricht genau der sogenannten „Vessel-Rituality“. Darunter wird in der Religionsforschung folgendes verstanden: Rituale – und das Pilgern ist auch ein Ritual im weitesten Sinn – können heute nicht einfach einen, für alle verbindlichen Sinn vorgeben. In unserer pluralisierten und individualisierten Gesellschaft ist das nicht mehr möglich. Rituale bieten bestenfalls noch einen gemeinsamen Rahmen, eben ein Gefäß, ein „Vessel“, das gemeinsam vollzogen werden kann. Aber die innere Haltung der Teilnehmenden ist dabei frei. Das Ritual muss sich nicht erklären, es genügt, wenn es vollzogen wird. Als Vessel bleiben sie aber in einer gewissen Unverbindlichkeit, die aber das Gefühl der Gemeinschaft nicht stören muss. Das Gefäß Ritual ist nicht überflüssig, es bietet einen Schutzraum, der Offenheit ermöglicht und den individuellen Sehnsüchten Raum gibt. Viele Pilger legen Wert darauf, sich den Sinn jeweils selbst zu erschließen und ihn nicht quasi fertig vorgesetzt zu bekommen. Hier ist also die individuelle Erfahrung und Deutung von großer Wichtigkeit. Gleichzeitig – und das ist ein wenig paradox – wird es geschätzt, wenn der Pilgerweg selbst, also der Vollzug des Rituals, ganz konventionell ist. Man geht wieder in eine Kirche. Bei gemeinsamem Pilgern werden die geistlich geprägten Stationen, Texte, Lesungen und Lieder sehr geschätzt. Die Teilnahme daran verpflichtet zu nichts, nicht einmal dazu, eine innere, eigene Beziehung zu den Inhalten zu entwickeln. Aber es ist angeboten und immer wieder wird es auch gerne angenommen.

Einmal sollte man seine Siebensachen
Fortrollen aus diesen glatten Gleisen.
Man müsste sich aus dem Staube machen
Und früh am Morgen unbekannt verreisen.
Man sollte nicht pünktlich wie bisher
Um acht Uhr zehn den Omnibus besteigen.
Man müsste sich zu Baum und Gräsern neigen,
Als ob das immer so gewesen wär.

So die Dichterin Mascha Kaleko (1907-1975). Ja, einmal sollte man, einmal müsste man. Warum ist das Pilgern, das Wandern, Trekking und Wallfahrten heute so beliebt? Weil Menschen einmal weg wollen, einmal weg müssen. Fortrollen aus diesen glatten Gleisen, die den Alltag ausmachen.

Bild: Evangelische Kirche A.B. in Österreich

Viele, die heute unterwegs sind, als Wanderer, als Pilger, suchen etwas. Und es werden von Jahr zu Jahr mehr, die sich auf den Pilgerweg machen. Das schlägt sich in der Literatur nieder, etwa bei Paolo Coelho („Auf dem Jakobsweg“ 1999), Hape Kerkeling („Ich bin dann mal weg“ 2006) oder Shirley MacLaine („Der Jakobsweg“ 2001), aber auch in manchen Filmen („Pilgern auf Französisch“, Frankreich 2005; „Dein Weg“ USA/Spanien 2010 und aus Österreich „Auf dem Jakobsweg – Brüder III“ mit Andreas Vitasek, Wolfgang Böck und Erwin Steinhauer, Regie: Wolfgang Murnberger).

Erste wissenschaftliche Beschäftigungen mit den Motiven und Erfahrungen von Pilgern und Pilgerinnen sind durchgeführt worden. Pilgerliteratur erscheint immer mehr. Insgesamt: Pilgern ist in. Aber was suchen die Menschen eigentlich? Ich vermute: Sie suchen das Weite. Das Buch von Hape Kerkeling steht dafür. Einen Ausbruch aus den beengenden Bedingungen des alltäglichen Lebens. Aber: Wer das Weite sucht, ist oft auch vor irgendetwas auf der Flucht, ist nicht selten dabei, Davonzulaufen. Wer das Weite sucht, will möglichst viel von dem hinter sich lassen, was einen Tag aus Tag ein beschäftigt, vielleicht auch bedrückt und quält. Nicht wenige wollen auch sich selbst zurücklassen. Sie sind getrieben von der Sehnsucht nach dem Anderen, nach dem ganz Anderen und davon, selbst anders zu werden. Davon spricht Paolo Coelho. Manche verwechseln diese Sehnsucht mit Zerstreuung, mit Zeitvertreib, mit Fitness und Wellness und kehren unverwandelt, unverändert, nur fitter, frischer, munterer in ihren grauen Alltag zurück. Wieder in den glatten Gleisen. Andere wieder – wie Shirley MacLaine – suchen das Eins-Werden mit der Natur, die Auflösung des eigenen Ich in einem großen Ganzen. Zwischen Selbstüberwindung und Kampf (bei Coelho), oder dem Ausprobierten und Experimentieren mit sich selbst und der Welt (Kerkeling) und dem Eins-Werden, dem Auflösen (wie bei MacLaine) spannt sich ein weiter Bogen. Was in der Literatur begegnet, bestätigen auch die empirischen Befragungen von Pilgern und Pilgerinnen.
Aber christliche Frömmigkeit ist keine Anleitung, das Weite zu suchen. Christlicher Glaube lädt ein dieWeite zu suchen. Nicht die Zerstreuung, sondern die Sammlung und Konzentration auf die Mitte, das Zentrum des Lebens, nicht den Zeitvertreib, sondern die Ewigkeit im Jetzt, die Fülle, die Erfüllung der Zeit. Als gottgewollter Mensch in Gemeinschaft mit allem, was gottgewollte Schöpfung ist. Sich wieder zu Baum und Gräsern neigen, als ob das immer so gewesen wäre. Dabei scheinen mir die drei Aspekte hilfreich, die der ÖTK für seinen Pilgerweg der Gerechtigkeit und des Friedens benannt hat: Die via positiva, also die Freude an der Schöpfung und der eigenen Leiblichkeit, die via negativa, also das Wahrnehmen der Wunden und Leiderfahrungen, seien sie historisch oder aktuell, aber auch der eigenen Grenzen, und schließlich vor allem die via transformativa, die verändernde, ja verwandelnde Kraft des Pilgerns.

Schluss

Zum Schluss will ich Ihnen und Euch ein besonderes evangelisches Pilgerlied vorstellen. Es findet sich im EG (393), leider nicht im GL.

Gerhard Tersteegen (1697-1769) stammte aus einem frommen Elternhaus. Er hatte fünf ältere Brüder und zwei Schwestern. Einer seiner Brüder war Prediger, die anderen Kaufleute. Der Vater, der Kaufmann Heinrich Tersteegen, verstarb bereits 1703. Im gleichen Jahr, also im Alter von sechs Jahren, begann Tersteegen mit dem Besuch der Lateinschule, wo er auch Griechisch und Hebräisch lernte. Da seiner Mutter die Mittel für ein von ihm gewünschtes Theologiestudium fehlten, ging Tersteegen 1713 zu einem Schwager nach Mülheim, um Kaufmann zu werden. Nach Abschluss der Lehre im Jahr 1717 gründete er ein eigenes Geschäft. 1719 zog er sich wieder aus dem Beruf zurück, da er ihn nach seiner Erweckung mit 16 Jahren zu sehr zerstreute und vom Wachsen der Gnade abhielt. Er suchte sich ein stilleres Gewerbe zuerst als Leinenweber, da ihm diese Arbeit nicht gesundheitlich zuträglich, war dann als Seidenbandweber in kärglicher Armut und Einsamkeit. Zugleich nahm er an den Übungen, den wöchentlichen Erbauungsstunden, des Candidaten Wilhelm Hoffmann teil und ergriff hier auch selbst das Wort. 1728 gab er das Weben ganz auf und lebte von Gaben zu seinem Lebensunterhalt und für seine Mildtätigkeit. So wurde er Laienprediger und der einzige Mystiker des reformierten Pietismus, indem er unter anderem Schriften katholischer Mystiker, wie Teresa von Ávila, übersetzte. Er predigte auch am ganzen Niederrhein und in Holland. 1756 musste er dies wegen schlechter Gesundheit einschränken und im März 1769 erkrankte er an Wassersucht (Herzinsuffizienz). Er starb am 3. April.

Obwohl Tersteegen soweit mir bekannt ist kein Pilger war, spricht er aus Erfahrung. Das Leben des Christen, der Christin wird als Pilgerweg verstanden. An einer Stelle kann man meinen, es geht um den Pilgerweg zum Heiligen Grab nach Jerusalem. Aber das eigentliche Ziel ist die Einkehr, die Heimkehr bei Gott. Vieles von dem, was Menschen heute von ihren Pilgererfahrungen berichten, findet sich im Text des Liedes. Menschsein heißt unterwegs sein, vor allem Christsein! Die eingangs erwähnte Hintergrundstrahlung des Biblisch begründeten Glaubens beginnt hell zu leuchten.

  1. Kommt, Kinder, lasst uns gehen,
    der Abend kommt herbei;
    es ist gefährlich stehen
    in dieser Wüstenei.
    Kommt, stärket euren Mut,
    zur Ewigkeit zu wandern
    von einer Kraft zur andern;
    es ist das Ende gut.
  2. Es soll uns nicht gereuen
    der schmale Pilgerpfad;
    wir kennen ja den Treuen,
    der uns gerufen hat.
    Kommt, folgt und trauet dem;
    ein jeder sein Gesichte
    mit ganzer Wendung richte
    fest nach Jerusalem.
  3. Geht’s der Natur entgegen,
    so geht’s gerad und fein;
    die Fleisch und Sinnen pflegen,
    noch schlechte Pilger sein.
    Verlasst die Kreatur
    und was euch sonst will binden;
    lasst gar euch selbst dahinten,
    es geht durchs Sterben nur.
  4. Man muss wie Pilger wandeln,
    frei, bloß und wahrlich leer;
    viel sammeln, halten, handeln
    macht unsern Gang nur schwer.
    Wer will, der trag sich tot;
    wir reisen abgeschieden,
    mit wenigem zufrieden;
    wir brauchen’s nur zur Not.
  5. Schmückt euer Herz aufs beste,
    sonst weder Leib noch Haus;
    wir sind hier fremde Gäste
    und ziehen bald hinaus.
    Gemach bringt Ungemach;
    ein Pilger muss sich schicken,
    sich dulden und sich bücken
    den kurzen Pilgertag.
  6. Kommt, Kinder, lasst uns gehen,
    der Vater gehet mit;
    er selbst will bei uns stehen
    bei jedem sauren Tritt;
    er will uns machen Mut,
    mit süßen Sonnenblicken
    uns locken und erquicken;
    ach ja, wir haben’s gut.
  7. Kommt, Kinder, lasst uns wandern,
    wir gehen Hand in Hand;
    eins freuet sich am andern
    in diesem wilden Land.
    Kommt, lasst uns kindlich sein,
    uns auf dem Weg nicht streiten;
    die Engel selbst begleiten
    als Brüder unsre Reihn.
  8. Sollt wo ein Schwacher fallen,
    so greif der Stärkre zu;
    man trag, man helfe allen,
    man pflanze Lieb und Ruh.
    Kommt, bindet fester an;
    ein jeder sei der Kleinste,
    doch auch wohl gern der Reinste
    auf unsrer Liebesbahn.
  9. Kommt, lasst uns munter wandern,
    der Weg kürzt immer ab;
    ein Tag, der folgt dem andern,
    bald fällt das Fleisch ins Grab.
    Nur noch ein wenig Mut,
    nur noch ein wenig treuer,
    von allen Dingen freier,
    gewandt zum ewgen Gut.
  10. Es wird nicht lang mehr währen,
    halt noch ein wenig aus;
    es wird nicht lang mehr währen,
    so kommen wir nach Haus;
    da wird man ewig ruhn,
    wenn wir mit allen Frommen
    heim zu dem Vater kommen;
    wie wohl, wie wohl wird’s tun.
  11. Drauf wollen wir’s denn wagen,
    es ist wohl wagenswert,
    und gründlich dem absagen,
    was aufhält und beschwert.
    Welt, du bist uns zu klein;
    wir gehn durch Jesu Leiten
    hin in die Ewigkeiten:
    Es soll nur Jesus sein.

Pilgern ist biblisch

Auch andere Religionen kennen die Pilgerschaft: Ein Moslem soll einmal in seinem Leben den Hadsch auf sich nehmen und eine Pilgerreise zur Kaaba nach Mekka (Saudi Arabien) und nach Medina (Grab des Propheten Mohammed) unternehmen.

Im Buddhismus und im Hinduismus kennt man die Pilgerschaft zum schneebedeckten Berg Kailash (6741 m) bei Lhasa/Tibet, der als Sitz des Gottes Siva gilt. Und im buddhistischen Japan gibt es den Shikoku-Pilgerweg mit 88 Tempeln (1400km). Das sind nur wenige Beispiele.

Die Wurzeln der christlichen Pilgerschaft liegen im antiken Judentum. Dort gibt es drei Feste im Jahr, zu denen man nach Jerusalem aufbrechen konnte: Das Befreiungsfest (Passah), das Wochenfest (Schavuot) und das Laubhüttenfest (Sukkot). Die Juden in Judäa, Kleinasien und Nordafrika haben teilweise sehr weite Wege auf sich genommen, um rechtzeitig zum Fest in Jerusalem am Tempel zu sein. Selbst der jüdische Philosoph Philo von Alexandria (20 v. Chr. – ca. 45/50 n. Chr.) brach zu einem gut siebenhundert Kilometer langen Weg nach Jerusalem auf, um dort an einem Pilgerfest teilzunehmen. Auf dem Pilgerweg hat man Wallfahrtspsalmen gebetet, zum Beispiel den Psalm 121 oder die Psalmen 136–150, die auch das Gebet der heutigen Pilger inspirieren. Und schon im Alten Testament kennt man den Gedanken der „Völkerwallfahrt zum Zion“ (Zion ist der Berg, auf dem sie Stadt Jerusalem gebaut ist): Alle Menschen sind vereint, um am Jerusalemer Tempel Gott ehren (Jesaja 2,2–5). Und noch heute spielt die Stadt Jerusalem in jüdischen Gebeten eine große Rolle und manche Juden pilgern zur Westmauer des früheren Jerusalemer Tempelareals, um dort zu beten.

Der christliche Glaube hat seine stärksten – die biblischen – Erfahrungen auf dem Weg gemacht: Jesus war mit seinen Jüngern in Galiläa wandernd unterwegs. Und bereits als Zwölfjähriger, so erzählt der Evangelist Lukas in Lukas 2, pilgerten er und seine Familie nach Jerusalem zum Passahfest, dem jüdischen Fest Befreiung aus Ägypten und dem langen Weg der Bewahrung des Volkes Israel in der Wüste. An einem Passahfest hat Jesus seinen Tod erlitten. Und der vielerorts heute noch bekannte „Osterspaziergang“, erzählt vom Weg der Jünger von Jerusalem nach Emmaus und wieder zurück und von der Verwandlung, die die Jünger dabei erfahren haben (Lukas 24). Jesus selbst hat sich als den Weg bezeichnet (Johannes 14,6) und das frühe Christentum nannte man anfangs einfach nur den „Neuen Weg“ (Apostelgeschichte 9,2; 19,23). Diese vielen biblischen Weg-Texte der Bibel gilt es neu zu entdecken!

Pilgern ist christlich

Bereits im vierten Jahrhundert brachen Christen ins Heilige Land auf, um die Stätten zu besuchen, an denen Jesus gelebt hat, zum Beispiel die Pilgerin Egeria (um 400) oder der Pilger von Bordeaux (um 333 n.Chr.). Die Mosaik-Landkarte auf dem Boden der Georgs-Kirche in der jordanischen Stadt Madaba ist die erste Karte von Palästinapilgern (542 n. Chr.).

Die berühmtesten christlichen Pilgerorte sind neben Jerusalem: Die Stadt Rom, weil man dort die Gräber von Paulus und Petrus vermutet. Heute geht man nach Rom auf der Via Romea oder der Via Francigena. Und auf dem Camino nach Santiago de Compostela, weil man das dortige Grab dem Apostel Jakobus dem Älteren zuschreibt.

Der Boom des Pilgerns ist ein neues Phänomen auf alten Spuren. Menschen brechen auf, um ihrem Leben Tiefe und Sinn zu geben. So spricht man gerne von einer Wiederbelebung der Jakobswege, auch wenn man heute unter modernen Vorzeichen pilgert. Heute wie früher bedeutet Pilgern aus der Alltagswelt auszubrechen, und die Einfachheit und die direkte menschliche Begegnung zu suchen und um Gott zu begegnen.