Herrn Karls neue Freundin

[2017-11-21]

Der Herr Karl war der reichste Mann seines Landes. Niemand hatte so viel Geld wie er. Seine Geschäfte liefen fantastisch und sein Bankkonto wurde immer voller und voller, von Jahr zu Jahr, von Monat zu Monat, ja sogar von Tag zu Tag. Mit seinem vielen Geld konnte sich der Herr Karl kaufen, was er wollte. Und nicht nur das. Auch die Menschen schienen sich durch das viele Geld des Herrn Karl zu verändern, wenn er ihnen begegnete. Alle waren sehr freundlich zu ihm, lasen ihm jeden Wunsch von den Lippen ab und übertrafen sich gegenseitig an Höflichkeit und Freundlichkeit, sobald sie ihn auch nur von der Weite kommen sahen. Der Herr Karl wusste, dass das daran lag, dass er so erfolgreich war und er dachte sich, dass das auch in Ordnung wäre. Wer Geld hat, der ist eben beliebt, das war schon immer so, dachte er sich.

Und das wäre wohl sein ganzes Leben lang so geblieben, wenn nicht etwas passiert wäre. Der Herr Karl hatte sich nämlich verliebt. Verliebt in eine Frau aus dem benachbarten Land, jenseits des großen Gebirges im Süden. Schon als er sie das erste Mal gesehen hatte, war es um ihn geschehen gewesen. Keine Frau konnte so lachen wie sie. So fröhlich, so herzlich, so offen, dass es einem innerlich ganz warm ums Herz wurde. Und nun stellt euch vor, wie glücklich der Herr Karl war, als diese bezaubernde Frau tatsächlich seine Freundin wurde. Sie waren das glücklichste Paar auf der Welt.

Nur eines war komisch. Immer wenn sie unter Menschen waren, wurde Herrn Karls neue Freundin ein wenig seltsam. Sie verlor ihre Fröhlichkeit, ja man hatte den Eindruck, als fühle sie sich nicht wohl. Als der Herr Karl sie eines Tages darauf anredete, antwortete sie ihm bereitwillig: „Du hast Recht, ich fühle mich gar nicht wohl, wenn wir in Gesellschaft sind. Merkst du denn gar nicht, wie komisch sich die anderen Menschen benehmen? Sie sind so eigenartig freundlich und höflich.“

„Ach, wenn es weiter nichts ist“, sagte der Herr Karl, „das kann ich dir erklären. Das ist einfach deswegen, weil sie Respekt vor mir haben. Schließlich bin ich der erfolgreichste Geschäftsmann unseres Landes.“

„Aber fällt dir denn nicht auf, dass diese Freundlichkeit nicht echt ist? Sie sind ja gar nicht freundlich zu dir, sondern nur zu deinem Geld!“ „Ach, was du da redest!“, rief der Herr Karl, „das ist doch nicht wahr.“

Und dann wechselten sie das Thema und sprachen nicht mehr darüber. Aber am Abend, als der Herr Karl im Bett lag, dachte er wieder an die Worte seiner neuen Freundin und irgendwie schien ihm, als wäre doch etwas Wahres an dem, was sie gesagt hatte. Also sprach er sie darauf an, als sie sich das nächste Mal trafen. „Weißt du was“, sagte sie zu ihm, „wir können es ausprobieren. Komm mich einmal in meinem Land besuchen. Dort kennt dich keiner. Mal sehen, ob sich die Leute gleich benehmen oder ob sich etwas ändert. Außerdem wollte ich dir schon immer mein Land zeigen, du warst ja noch nie bei mir.“

Der Herr Karl willigte ein und so trafen sie sich ein paar Tage später in ihrem Land und besuchten dort ein Dorffest, das gerade stattfand. Zunächst dachte sich der Herr Karl, was es in diesem Land für unfreundliche Leute gäbe, weil sie zunächst gar keine Notiz von ihm nahmen. Niemand grüßte ihn von weitem, niemand eilte auf ihn zu, um ihm ein paar nette Worte zu sagen. „Wieso sollten sie?“, sagte seine Freundin, „sie kennen dich ja nicht. Du musst schon selbst zu ihnen hingehen.“

Nach einigem Zögern befolgte er ihren Rat und setzte sich an einen Tisch. Freundlich machte man ihm Platz und ließ ihn sogleich am Gespräch teilnehmen. Schnell wurde das Gespräch immer lebhafter und nach einer Stunde hatte der Herr Karl das Gefühl, er würde diese netten Menschen schon ewig kennen. Aber das Gespräch war irgendwie anders als sonst. In seinem Land stimmten ihm alle immer nur zu, egal, was er sagte. Hier teilten manche seine Meinung, aber manche auch nicht. Und er stellte fest, dass die Gespräche auf diese Weise eigentlich viel unterhaltsamer waren als bei ihm zu Hause. Außerdem waren die Menschen tatsächlich ganz anders. Sie waren ebenso freundlich und höflich, aber es war anders. Ehrlicher, offener, herzlicher.

Als der Herr Karl das erkannte, beschloss er, von nun an öfter in das Land seiner neuen Freundin zu kommen. Und das tat er auch. Nach ein paar Wochen bemerkte er, dass er auf einmal echte Freunde hatte. Freunde, auf die er sich freute und wo er es gar nicht erwarten konnte, sie wieder zu sehen. In seinem eigenen Land war ihm das nie passiert. Dort hatte er Bekannte, viele Bekannte, aber keine Freunde. Warum fällt mir das eigentlich erst jetzt auf, dachte er bei sich.

Und dann verstand er auf einmal auch, warum er sich so unsterblich in seine Freundin verliebt hatte: Sie war der erste Mensch gewesen, der ihn nicht wegen seines Geldes liebte, sondern die nur ihn gern hatte, ihn den Herrn Karl selber!

Ihr könnt es euch wahrscheinlich schon denken: Es dauert nicht mehr lange und der Herr Karl zog für immer in das Land seiner Freundin. In das Land, wo man echte Freundschaft und echte Liebe bekam, ganz ohne Geld.

Hartmut Schwaiger