Führt der Weg zum Ziel oder ist der Weg das Ziel?

[08.07.2024]

Mögt ihr Sprichwörter? Ich mag sie eigentlich ganz gerne, nur fallen sie mir nicht immer gleich ein. Aber zu unserem jetzigen Thema „Wege – oder neue Wege“, sind mir gleich zwei eingefallen: „Alle Wege führen nach Rom“ – das sagte man, weil die Römer im Altertum schier ganz Europa besetzt hatten. Sie waren die Ersten, die befestigte Straßen in ihren ganzen Ländereien gebaut haben, damit man mit den Wagen und Fuhrwerken besser vorankam.

Und das andere war: „Der Weg führt zum Ziel!“ – oder heißt es „Der Weg ist das Ziel?“ – Was glaubt ihr? Josh hat sich das auch gefragt und keine Antwort darauf gewusst. Er hat echt lange darüber nachgedacht und beschlossen, wenn das einer weiß, dann sicher sein Großvater! Immerhin war dieser bereits 88 Jahre alt und der wusste einfach alles! „Der muss das wissen“, dachte Josh bei sich.

Beim nächsten Besuch der Familie ging er gleich in die Werkstatt seines Opas. Ihr müsst wissen, Josh’s Großvater war Antiquitäten-Tischler und er hatte eine kleine Werkstatt neben dem Haupthaus. Er war zwar schon alt, aber er machte immer wieder noch kleine Kästen, Stühle oder reparierte etwas, für Nachbarn und Leute, die ihn schon lange kannten. Sein Großvater sagte immer: „Solange meine Hände noch können und meine Augen noch sehen, geht das schon.“

Und Josh freute sich jedes Mal darauf, die Türe der Werkstatt seines Großvaters zu öffnen. Denn jedes Mal wenn er eintrat kam ihm als erstes der wunderbare Duft von Holz und vor allem Zirbenholz entgegen. Er liebte den Geruch und viele Antiquitäten wurden aus Zirben- oder Kirschholz gefertigt. Das gefiel ihm so sehr, dass er selbst mal Tischler werden wollte. In der Werkstatt lagen überall Holzspäne herum, aber das störte Josh nicht. Sein Großvater stand mitten im Raum vor der Werkbank und hobelte gerade an einem Stück Holz.

„Hey Opa, was machst du gerade?“, fragte Josh fröhlich. „Ach, ich muss das Kästchen für Frau Mayr richten, aber ich bin gleich fertig, es fehlt nur ein letzter Schliff. Dann kann ich es mit Schellack streichen und montieren“, sagte der alte Mann freundlich. „Und du? Wie geht es dir, hab dich ja schon lange nicht mehr gesehen. – Mann, wie groß du geworden bist! Wo möchtest du denn noch hinwachsen!“, lachte Josh‘s Opa. Da musste auch Josh lachen. „Opa?“ – „Mhmm?“ – „Ich hab da mal eine Frage“, schoss es aus Josh heraus. „Na dann, immer nur raus damit, mein Junge“, ermunterte ihn sein Opa. Josh erklärte seinem Großvater sein Problem und sah ihn schließlich fragend an.

„Tja, das ist eine wirklich gute Frage“, begann sein Großvater, „das kommt ganz auf die Situation an, glaube ich.“ „Welche Situation?“ fragte Josh neugierig. „Naja, aus welcher Warte man es betrachtet“, antwortete sein Opa. „Also schau mal: Wenn du sagst, dass du wo hinmöchtest, zum Beispiel Eis kaufen, dann ‚führt der Weg zum Ziel‘ – verstehst du? Dann weißt du genau, welchen Weg du gehen musst, um dein Ziel – in dem Fall ein Eis zu kaufen – einzuschlagen.“ „Tja, das leuchtet ein und wie ist es mit dem anderen?“, fragte Josh. „Beim anderen Sprichwort verhält es sich so, wie zum Beispiel bei Mose.“ „Sorry, aber wie kommst du denn jetzt auf Mose?“, fragte der Enkel. „Naja, Mose war ein gläubiger Mensch und er hat das Volk Israel aus Ägypten geführt, aber wirklich sicher war er sich selbst nicht immer, ob Gott ihn und das Volk auch richtig führte. Er war manchmal skeptisch und hat oft mit Gott diskutiert, ob er schon die richtigen Entscheidungen traf. Vielleicht wurde er auch oft von den Menschen, die er rettete, beeinflusst, aber er zweifelte hin und wieder“, begann sein Opa zu erzählen. „Was hat das alles jetzt mit dem Sprichwort zu tun?“, fragte Josh etwas enttäuscht. Sein Großvater lächelte und sagte nur: „Lass dir Zeit, mein Junge, kommt schon noch. Mit der Zeit erfuhren die Menschen viele Wunder, die Gott vollbrachte. Zum Beispiel: Die Teilung des Meeres, das Wasser im Felsen, damit keiner Durst leiden musste, oder das Manna, das in der Wüste vom Himmel fiel, damit keiner verhungerte. Aber die Menschen haben immer wieder gejammert. Doch Moses Glaube wurde dadurch immer stärker und schließlich vertraute er Gott voll und ganz. Aber oft wurde er zornig und so hatte er die ersten Steintafeln mit den 10 Geboten kaputt gemacht, aber sein Glaube wuchs stetig von Tag zu Tag“, fuhr sein Großvater fort. „Am Ende wurde er zu einem großen Anführer seines Volkes und führte sie bis zum gelobten Land, das Gott ihnen versprochen hatte. Mose hatte dadurch erfahren, dass seine Reise/Weg bis dorthin das Ziel für seinen Glauben war. Immerhin zog er selbst nicht in das gelobte Land ein. Im Grunde ist das genauso wie in unserem Leben. Jeder von uns lernt tagtäglich etwas dazu und sammelt Erfahrungen. Und am Ende des Lebens kann man auf viele Dinge und Erkenntnisse zurückblicken. Wenn man jung ist, möchte man dies und jenes erleben, haben und tun. Wenn man alt ist, erkennt man, was man alles falsch und was man richtig gemacht hat und vor allem, dass eine jede Erfahrung und ein jeder Moment, den man erlebt hat, genau den Menschen aus dir macht, der man ist.“ „Klingt irgendwie einleuchtend, Opa“, meinte Josh, „also stimmen im Grunde beide Sprichwörter, nicht wahr?“ „Stimmt, das hast du gut erkannt, Josh“, sagte der alte Mann zufrieden. „Weißt du, wenn man dann dazu noch so viel Glück hat wie ich, dann bekommt man so großartige Enkel wie dich, die neugierig sind und der Sache auf den Grund gehen wollen und irgendwann ebenso in der Lage sind, so ein erfülltes Leben zu haben wie man selbst und wissen, dass es im Leben so ist, dass der Weg das Ziel ist“, sagte sein Großvater zum Schluss…

Ihr habt sicher auch schon aus vielen Situationen im Leben gelernt und habt schon manches erlebt. Überlegt doch mal, ob euch der ‚Weg‘ auch schon zu einem Ziel geführt hat oder ob der Weg sogar euer Ziel war. Vielleicht beim Lernen für eine gute Note oder ein Rätsel, das euch ‚Geduld‘ gelehrt hat. Ihr werdet staunen, wie viele Wege euch zum Ziel führen und wie viele Wege einfach „nur“ das Ziel sind.

Ich wünsche Euch allen einen schönen Sommer und schöne Ferien mit ganz vielen Wegen und Zielen.

Eure Yvonne