Ein Stoß Papier

[2018-04-19]

Von einem Begräbnis, das zu einem neuen Anfang führte

Jonas hatte es nicht leicht. Seit er in der Schule war, hatte er nur Probleme. Nein, nicht mit dem Lernen, das fiel ihm kaum einmal schwer. Sondern mit seinen Mitschülern. Jonas war nämlich nicht sehr beliebt in seiner Klasse. Warum, das wusste er nicht so genau. Die anderen, die hatten wohl einfach Spaß daran, ihn zu hänseln und zu ärgern. Irgendeinen Schüler traf es schließlich in jeder Klasse, in jeder Schule war das so. Und hier in dieser Schule, in seiner Klasse, da war das eben er. Da konnte man nichts machen. Es hatte auch keinen Sinn, es den Eltern zu erzählen, im Gegenteil, das würde die Sache nur noch schlimmer machen. Dann wäre er in den Augen der anderen auch noch eine Petze. Nein, nein, dann lieber die dummen Streiche der anderen stumm ertragen und jeden Tag in der Früh hoffen, dass es heute schon nicht ganz so schlimm werden würde. Und wenn es dann doch wieder schlimm – manchmal sogar sehr schlimm – gewesen war, dann konnte Jonas sich immer noch in seinem Zimmer verkriechen, unter seiner Decke. Dort wenigsten ließen ihn alle in Ruhe. Aber mit der Zeit fiel es ihm schon sehr schwer, in der Früh aufzustehen und zur Schule zu gehen.

Auch diesen Morgen wieder wachte Jonas mit diesem mulmigen Gefühl auf, das er immer hatte, sobald er an die Schule dachte. Aber schließlich stand er doch auf, frühstückte – obwohl er wenig Hunger hatte – und ging los. Als er hinter seinem Haus um die erste Ecke bog, wurde er langsamer. Denn das war der Platz, wo sie oft auf ihn warteten, die anderen, wenn sie gerade Lust hatten, ihn schon am Schulweg zu ärgern. Diesmal aber hatte er Glück, denn um die Ecke wartete nur Herr Jäger auf ihn, der alte Nachbar, der da im Haus an der Ecke wohnte.

„Grüß dich, Jonas“, sagte er, „darf ich dich ein Stück begleiten?“ „Ja, ja, sicher“, antwortete Jonas und war eigentlich ganz froh darüber, denn so hatte er wenigstens bis zur Schule seine Ruhe. „Du, Jonas“, sagte Herr Jäger nach einer Weile, „dir geht´s nicht so gut, oder? Ich meine, ich sehe von meinem Fenster aus ja alles, was da am Weg so passiert. Das mit deinen Schulkollegen und so. Wie die dich behandeln. Gar nicht fein ist das.“ „Geht schon so. Muss ja gehen“, murmelte Jonas als Antwort vor sich hin. „Schon? Also, ich finde nicht, dass du das verdient hast.“

„Danach fragt doch keiner von denen“, antwortete Jonas, „das ist denen doch völlig egal.“ „Da hast du wahrscheinlich recht“, erwiderte Herr Jäger. „Aber vielleicht wüsste ich einen Weg, wie man dir helfen kann. Wie du dir helfen kannst.“ „Ach ja?“, fragte Jonas und schaute Herrn Jäger fast ungläubig an. „Weißt du Jonas, ich kann dir das natürlich nicht versprechen, aber einen Versuch wäre es doch wert, oder?“

„Wahrscheinlich schon“, antwortete Jonas, „ja, schön wär‘ es schon, wenn man da was tun könnte.“

Inzwischen waren die beiden vor der Schule angekommen und stehen geblieben. Herr Jäger klopfte Jonas auf die Schulter und sagte: „Komm doch nach der Schule bei mir vorbei, dann schauen wir mal, was wir machen können.“ Am Nachmittag ging Jonas gleich nach der Schule zu Herrn Jäger. Der begrüßte ihn freundlich und bat ihn zu sich herein. Sie setzten sich an den Küchentisch.

Da lag ein Stoß Papier und ein Bleistift. „Jonas“, sagte Herr Jäger, „der Plan lautet folgendermaßen: Heute begraben wir dein altes Leben und fangen einfach ein neues an.“

„Wie bitte?“ Jonas schaute verdutzt drein.

„Du hast schon richtig verstanden, Jonas. Hier, auf diesem Papier schreibst du jetzt alles auf, was dich bedrückt. Schreib alles auf, alles, was dir einfällt. Und wenn das alles, wirklich alles, auf diesem Papier steht, dann begraben wir es und dann ist es vorbei.“

Jonas saß stumm da und wusste nicht, was er tun sollte. Das sollte funktionieren?

„Los. Schreib schon. Du wirst sehen, das hilft“, forderte Herr Jäger ihn auf. Und da fing Jonas an zu schreiben. Und er schrieb. Und schrieb. Und schrieb. Er hörte gar nicht mehr auf. Als er endlich doch fertig war, lag vor ihm ein Stoß von mehr als zehn Blättern Papier, vollgeschrieben von oben bis unten.

„Sehr gut, Jonas“, sagte Herr Jäger, „und jetzt komm mit!“ Er nahm den Stoß Papier und ging in den Garten. Jonas folgte ihm. Dort war schon ein kleines Loch in die Erde gegraben, in dem lag eine kleine schwarze Holzkiste. Da hinein legte Herr Jäger die Blätter, machte die Kiste zu und dann nahm er eine Schaufel und gab sie Jonas: „Jetzt kannst du das Loch zuschaufeln.“

Das ließ sich Jonas nicht zweimal sagen. Er schaufelte, bis das ganze Loch mit Erde zugedeckt war. Und dann stellte er sich noch auf die Erde und stampfte sie mit seinen Füßen fest. So fest, dass Herr Jäger lachen musste: „Wenn du so weiter machst, dann wird da nicht einmal mehr Gras wachsen, Jonas.“ „Kann schon sein“, lachte auch Jonas. Und er spürte, wie es ihm bereits ein wenig leichter ums Herz wurde.

Und das soll jetzt geholfen haben, fragst du? Ja, hat es. Natürlich ist das Leben von Jonas nicht sofort ganz anders und supertoll geworden. Doch das hat ihm Herr Jäger damals im Garten auch gesagt, dass er sich das nicht erwarten darf. Aber die Zeit, wo er sich alles gefallen hat lassen, die war vorbei. Die war begraben. Jonas hatte auf einmal den Mut, den anderen zu sagen, wenn ihn etwas gestört hat. Manchmal hat er dann noch eins auf die Nase bekommen. Aber immer öfter haben sie ihn auch in Ruhe gelassen. Vor allem aber hatte er den Mut, sich Freunde zu suchen. Und die hat er mit der Zeit auch gefunden und damit wurde vieles besser. Vorher, in seinem alten Leben, da hätte er nie geglaubt, dass er Freunde finden könnte. Aber Gott sei Dank lag dieses alte Leben ja nun begraben in der kleinen schwarzen Holzkiste in Herrn Jägers Garten. Der übrigens seither sein bester Freund geworden ist.

Hartmut Schwaiger