Angst und Vertrauen (6/6)

Yvonne Ennsmann (Sekretariat)
Yvonne Ennsmann (Sekretariat)

[29.09.2020]

Julia wusste es schon. Es wird bestimmt eine lange Reise. Ihre Eltern, ihr Bruder und sogar Harris (ein Freund der Familie), wollten unbedingt auf den Olymp. Olymp ist der höchste Berg in Griechenland. Ihre Mama würde aber nur bis zur ersten Hütte gehen und alle anderen zwei Tage länger, bis zum Gipfel.

Der erste Tag war ganz gemütlich, sie gingen entlang des Weges, gingen an schönen Wasserfällen und Wäldern vorbei. Bis sie an die Baumgrenze kamen. Auf der Hütte angekommen, aßen sie eine Kleinigkeit und schauten sich die Gegend an! Schön war es. Julia fand sogar einen Spielplatz und es gab viele Ziegen und Schafe da oben. Sie verbrachte den restlichen Tag damit, die Tiere zu streicheln und half sogar die Tiere zu melken. Der Senner der Alm freute sich, musste aber sehr lachen, weil Julia etwas brauchte, um das Melken auch zu können! Er gab ihr ein paar Tipps auf Griechisch, die Julia leider nicht verstand, aber Harris („Charris“) übersetzte alles und plötzlich ging es ganz leicht.

Nach einer guten Nacht und einem ausgiebigen Frühstück gingen alle außer Mama weiter Richtung Gipfel. Es war nicht wirklich spannend. Es gab tausende Steine, etwas Gehölz und viele Blumen, und es dauerte Ewigkeiten bis zur zweiten Hütte. Kaum angekommen trübte sich die Stimmung bei Julia.

Wieso gab es da nur ein Plumpsklo? Kein fließendes Wasser? Kein richtiges Bett mit Matratze? Sie glaubte in einer komplett anderen Welt zu sein – zurück versetzt ins 18. Jahrhundert oder so!
Aber das ist so hoch oben normal. Dort gibt es eben keine Bagger und andere Maschinen, die einen Kanal graben oder eine Wasserleitung legen, außerdem ist das so hoch, dass der Wasserdruck zu niedrig wäre, um fließendes Wasser zu haben.
Julia legte sich auf einen Liegestuhl vor der Hütte. Die Wolken rasten schier an ihr vorbei, so schnell hatte sie das noch nie gesehen. Mit der Zeit wurde ihr schwindelig und sie ging in die Hütte.
Dort war es aber eigentlich nicht besser. Es roch nach Ziege und Schaf und als sie ihr Nachtlager sah, wusste sie warum. Die Matratzen des Nachtlagers waren Ziegen- und Schaffelle, die übereinandergestapelt wurden und Leintücher zum Zudecken.
Am nächsten Tag ging es weiter. Harris nahm plötzlich eine Art Seil und band
es Julia um den Bauch. „Falls es zu steil und gefährlich wird, kann ich dich auffangen“, sagte er. Dann endlich nach 3,5 Stunden standen sie am Gipfel und alle waren begeistert – bis sie draufkamen, dass sie am falschen Gipfel standen und der echte „Olymp“ gegenüber lag. Also beschloss Julias Anhang, dass sie auf den anderen Gipfel rauf mussten, sonst könnte man ja nicht behaupten, auf dem Olymp gewesen zu sein!

Julia wurde sehr mulmig. Denn die anderen wollten nicht einfach zurück und den richtigen Weg einschlagen, NEIN, sie wollten quer darüber! Das hieß steil runter, lose Steine und darum sehr gefährlich und auf der anderen Seite wieder steil hinauf! – Wieder lose Steine!

Einig gingen alle hinunter, nur Julia hatte ein ungutes Gefühl; sie hatte Angst und sagte das auch. Daraufhin gingen Papa und ihr Bruder Gerald vor, aber Harris blieb hinter ihr. Papa ging über einen großen Stein, der wackelte, und Gerald auch. Er blieb liegen. Zum Glück! Aber Julia fand das nicht cool und stieg ganz vorsichtig darauf.

Plötzlich rutschte er weg und Julia hatte ganz große Angst abzustürzen! Aber da war noch Harris! Der sie mit dem Seil auffing und ihr Halt gab! – Gott sei Dank! Schließlich erklommen alle den richtigen Berg und Julia wusste, dass sie Harris vollends vertrauen konnte! Papa und Harris sagten aber, dass Julia und Gerald nicht im Stehen hinuntersehen sollen, sondern sich hinlegen sollten, um

über den Rand zu sehen, was sie schließlich getan haben! Der Ausblick war atemberaubend! Und weil es ein so schöner Tag war, sah man bis zum Meer. Julia würde nie vergessen, wie eng Angst und Vertrauen aneinander liegen, aber auch die Senkrechte ins Nichts vom Gipfel würde sie nie vergessen! Sie dachte, dass es gut war, dass Gott auch „mit“ auf den Gipfel ging und sie beschützte, damit sie diesen atemberaubenden Ausblick sehen durfte!

Unten am Parkplatz fiel sie schließlich ihrer Mutter in die Arme und sagte: „Mama! Ich werde mich vor nichts mehr fürchten, versprochen!“

Yvonne Ennsmann