Weihnachtliche Vielfalt

[20.12.2022]

Es war einmal… etwa 3 Tage vor Weihnachten, spät abends. Über den Marktplatz der kleinen Stadt kamen ein paar Männer gezogen. Sie blieben an der Kirche stehen und sprühten auf die Mauer „Ausländer und Ausländerinnen raus!“. Steine flogen in das Fenster des türkischen Ladens gegenüber der Kirche, dann zog die Horde ab. Gespenstische Ruhe. Die Fenster in den benachbarten Wohnhäusern wurden rasch wieder geschlossen – niemand hatte etwas gesehen.

„Los kommt, es reicht, wir gehen!“. – „Wo denkst du hin! Was sollen wir denn da unten im Süden?“ – „…da unten? Das ist immerhin unsere Heimat! Hier wird es immer schlimmer. Wir tun einfach, was da an der Wand geschrieben steht: Ausländer und Ausländerinnen raus!“

Tatsächlich, mitten in der Nacht kam Bewegung in die kleine Stadt. Die Türen der Geschäfte sprangen auf: Zuerst kamen die Kakaopäckchen heraus mit den Schokoladen und Pralinen in ihren Weihnachtsverkleidungen. Sie wollten nach Ghana und Westafrika, denn da waren sie zu Hause. Dann der Kaffee – palettenweise. Uganda, Kenia und Lateinamerika waren seine Heimat. Ananas und Bananen räumten ihre Kisten. Ebenso die Trauben und die Erdbeeren aus Südafrika. Fast alle Weihnachtsleckereien brachen auf: Pfeffernüsse, Spekulatius und Zimtsterne. Denn die Gewürze in ihrem Inneren zog es nach Indien. Die Vanillekipferl brachen nach Madagaskar und Mexiko auf. Aber der Weihnachtsstollen zögerte.

Man sah Tränen in seinen Rosinenaugen, als er zugab: „Mischlingen wie mir geht ́s besonders an den Kragen…“ Es war schon in der Morgendämmerung, als schlussendlich auch das Marzipan und der Lebkuchen in ihre ursprüngliche Heimat aufbrachen. Nicht Qualität, nur Herkunft zählte jetzt. Nach drei Tagen war der Spuk vorbei, der Auszug geschafft. Gerade rechtzeitig zum Weihnachtsfest. Nichts Ausländisches war mehr in den wenigen Weihnachtskeksen, die noch in der Bäckerei angeboten wurden. Aber Tannenbäume gab es noch, auch Äpfel und Nüsse. Und „Stille Nacht“ durfte gesungen werden –das Lied kommt ja immerhin aus Österreich.

Könnten Sie sich Weihnachtsbäckerei ohne Schokolade und ohne das Aroma von Zimt, Vanille, Muskatnuss, Gewürznelken und den vielen anderen Zutaten, die aus fernen Ländern stammen, vorstellen? Ich gebe ja zu – einige Kekssorten mit „nur österreichischen Zutaten“ würden schon übrigbleiben, aber es würde die Vielfalt fehlen, die Weihnachtskekse zu so einem besonderen kulinarischen Genuss machen! Und was wird aus meinem weihnachtlichen Lebkuchenhaus, wenn alle ausländischen Gewürze dem Aufruf „Ausländer und Ausländerinnen raus“ folgen würden?

Würden Menschen, die aus anderen Ländern zu uns gekommen sind, diesem Aufruf folgen, dann würde uns nicht nur die Vielfalt fehlen, die unsere Gesellschaft auszeichnet und unseren Horizont erweitert, viel- mehr würde unser Leben ganz schön aus den Fugen geraten: Wir sind in vielen Arbeitsbereichen auf Menschen mit Migrations- oder Fluchthintergrund angewiesen, weil einerseits manche Jobs von Österreicher*innen kaum nachgefragt werden und andererseits die erwerbsfähigen Österrei- cher*innen von Jahr zu Jahr abnehmen, während die Pensionsbezieher*in- nen stetig steigen. Auch 2021 gab es in Österreich mehr Gestorbene als neu Geborene – Zuwanderung sichert uns zumindest mittelfristig unser Erwerbspotential.

„Weihnachtliche Vielfalt“ spiegelt sich für mich nicht nur in den Weihnachtskeksen wider, sondern in jeder Begegnung mit Menschen, die anderer Herkunft sind. Ihnen verdanke ich die Erweiterung meines Horizontes. Von ihnen lernte ich Demut und Dankbarkeit dafür, dass ich – im Gegensatz zu ihnen – in Österreich geboren und aufgewachsen bin, wohl behütet und mit unendlich vielen Möglichkeiten, meine Begabungen zu entfalten und dann auch einsetzen zu können. Aus meinen vielen Gesprächen weiß ich, dass Menschen vor allem deshalb zu uns nach Österreich kommen, weil wir in einem friedlichen Land leben, in dem jeder Mensch in seinen persönlichen Rechten geschützt ist.

Macht bitte auch ihr den Frieden, der über jedem Weihnachtsfest liegt, heuer vielfältig für unsere Mitmenschen spürbar!

Diakoniebeauftragte Edda Böhm-Ingram