Geschwister (1/8)

[2020-04-13]

Am 10. April ist der Internationale Tag der Geschwister.

Ich nehme diesen Tag zum Anlass, wieder einmal über mich und meine Geschwister nachzudenken.

Ich habe einen älteren Bruder und eine jüngere Schwester und weil unsere Eltern schon verstorben sind, sind meine Geschwister diejenigen Menschen, zu denen ich die längste Beziehung meines Lebens habe. Uns verbinden schöne Kindheitserinnerungen und gemeinsam ausgeheckte Streiche in der Jugendzeit, in denen unser Zusammengehörigkeitsgefühl gestärkt wurde. Auch das Streiten und Einander-Necken gehörte dazu und so lernten wir frühzeitig, uns gegen andere zur Wehr zu setzen und uns nach einem Streit auch wieder zu vertragen. Unsere Eltern sorgten dafür, dass wir in Geborgenheit und Liebe aufwachsen konnten. Gleichzeitig gaben sie uns die nötige Freiheit, unsere Fähigkeiten auszuprobieren und zu festigen. Trotzdem gab es Dinge, die ich nie mit meinen Eltern besprochen hätte – da war mir mein 1 Jahr älterer Bruder Ingo in der Kindheit oft der bessere Vertraute und ich war stolz, als „kleine Schwester“ mit ihm und seinen Freunden durch den Wald streifen, einen geheimen Unterschlupf bauen und Geheimnisse mit ihm teilen zu dürfen, die niemand anderer wissen durfte. Dafür musste ich es auch aushalten, wenn er mir lebende Spinnen in mein T-Shirt steckte (was meine noch heute „ambivalente Haltung“ gegenüber Spinnen erklärt…). Birgit war unser „Nesthäkchen“, sie ist 8 Jahre jünger als ich. Anfangs war sie für mich wie eine „lebende Puppe“ und ich war diejenige, die gern auf sie aufpasste (fragt man heute meine Schwester, war sich manchmal von „meinen Methoden des Aufpassens“ nicht so begeistert wie ich…). Geheimnisse konnte ich aber in der Kindheit und in der Jugendzeit mit ihr nicht so gut teilen wie mit meinem Bruder – da war der Altersunterschied wohl zu groß. Dafür ist sie meine engste Vertraute seit der Zeit, in der wir unsere eigene Familie gegründet haben und unsere Kinder geboren wurden.

Als Geschwister haben wir auch Zeiten erlebt, in denen wir uns aus dem Weg gegangen sind und wenig Kontakt zueinander hatten. Unverständnis für die Lebenssituation des anderen kommt auch unter Geschwistern vor und von den Geschwistern nicht ernst genommen zu werden – egal mit welchen Anliegen – tut mehr weh als Unverständnis und Rückzug von Freunden, Freundinnen oder anderen Familienangehörigen.

Jetzt, nach über 50 Jahren, die unser gemeinsames Leben mit allen Höhen und Tiefen geprägt haben, sind mir meine Geschwister näher als je zuvor. Das jahrelange, gemeinsame Begleiten unserer schwer erkrankten Mutter hat uns (wieder) zusammenwachsen lassen und hat mich all die Kränkungen und Verletzungen, die wir uns als Geschwister im Laufe des Lebens zugefügt haben, vergeben und vergessen lassen. Das schönste Geschenk ist für mich, dass diese (Geschwister-)Liebe und dieses Wissen, sich aufeinander verlassen zu können, wie ein Funke auf unsere Kinder übergesprungen ist – auch sie sind sofort zur Stelle, wenn es einem aus der „Großfamilie“ schlecht geht. Aber auch das gemeinsame Feiern ist uns allen wichtig – Familienfeste gibt es nicht nur zu den Geburtstagen, sondern immer dann, wenn wir das Gefühl haben, wir sollten uns wieder einmal alle sehen oder gemeinsam etwas erleben (z.B. eine Reise nach Südtirol, um auf den Spuren unserer Ahnen zu wandern). Mein Schwager spricht manchmal von dem „Stamm“, auf den wir uns gegenseitig verlassen können – ein sehr schönes Bild!

Wie aber geht es jenen Menschen, die nie Geschwister hatten oder sich aus den unterschiedlichsten Gründen mit ihren Geschwistern so auseinandergelebt haben, sodass es keine innige Bindung mehr zueinander gibt? Ich denke, gute Freunde und Freundinnen können vieles, was man mit Geschwistern teilt, abdecken, und im Gegensatz zu Geschwistern kann ich sie mir aussuchen. Eine gute Freundschaft ist geprägt von Wertschätzung und Liebe, Solidarität und Abgrenzung, Zusammengehörigkeitsgefühl und Auseinandersetzung. Auf gute Freunde und Freundinnen ist Verlass in schwierigen Zeiten und gleichzeitig teilen wir mit ihnen oft unsere schönsten und unvergesslichsten Erlebnisse. Nie aber werden wir durch sie so in unserer Persönlichkeit geprägt wie durch unsere Geschwister.

Neben meinen leiblichen Geschwistern habe ich viele „Geschwister im HERRN“ – das bedeutet für mich, dass wir – geeint durch den Glauben an Gott – reich beschenkt werden mit Menschen, die uns wie leibliche Geschwister mit Liebe, Vertrauen und der Bereitschaft, sich gegenseitig in schwierigen Lebenslagen zu unterstützen, begegnen. Nicht immer ist es einfach, brüderlich oder schwesterlich zu teilen oder aber die angebotene Hilfe anzunehmen. Es wird auch Streit und Missgunst geben, aber auch Freude darüber, wenn gemeinsam etwas gut gelungen ist. Und ist es nicht unser diakonischer Auftrag, denen Schwester oder Bruder zu sein, die unsere Unterstützung, Zuneigung oder Gemeinschaft am allermeisten brauchen?

Edda Böhm-Ingram Diakoniebeauftragte