Nähe und Distanz (2/7)

[20.06.2020]

Nähe und Distanz, diesen Titel haben wir im Redaktionsteam für den Gemeindebrief ausgewählt. Auf den folgenden Seiten stellen wir verschiedene Aspekte dieses Themas dar! Viel Freude und vielleicht auch die eine oder andere Anregung beim Lesen!

Gott, du bist mir so nah. Gott, du bist mir so fern.

„Gott, bitte mach, dass diese Krankheit bald aufhört!“ Dieses Gebet – vielleicht auch verklausulierter oder in anderen Worten – ist in den letzten Monaten vermutlich sehr häufig gebetet worden. „Gott, setz dem Sterben ein Ende!“ „Greif ein in diese Welt und schenk Gesundheit und Heilung“. Vermutlich wurden diese Worte auch deshalb so häufig gesprochen, weil die ganze Welt vom Virus COVID-19 betroffen ist. Wir befinden uns mitten in einer Pandemie, die vor nichts Halt macht, der nichts heilig ist. Sie geht ohne Erbarmen und gnadenlos fort. Wirtschaftlich trifft uns diese Krise hart, und ärmere Länder trifft sie umso härter. Die Ungerechtigkeit auf der Welt zwischen Arm und Reich wächst von Tag zu Tag. Menschen ohne gesundheitliche Versorgung haben fast keine Chance. „Corona ist nur ein weiteres Übel, vor dem ich mich jetzt fürchten muss“, sagt eine Frau im griechischen Flüchtlingslager Moria. Wie gerne würde ich helfen, wie gerne würde ich Trost spenden. Aber ich brauche in solchen Zeiten selber Trost. Ich harre auf Gott, ich hoffe auf seine Antwort, auf Trost und Zuversicht. Aber antwortet Gott auf unser Bitten und Flehen? Hört er die Rufe der Verzweifelten und Sterbenden? Wenn der letzte Halt schweigt, wenn ich für mein Herz keinen Haken mehr finde, auf den ich es hängen kann, dann ist die Situation kaum zu ertragen. „Fürwahr, du bist ein verborgener Gott“, sagte bereits der Prophet Jesaja kummervoll (Jesaja 45,15).

Ich muss leider gestehen, dass uns diese Fragen unser Leben lang begleiten werden. Aber vielleicht ist es uns ein Trost, dass sogar Gott dieses Gefühl kennt. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, brüllt Jesus am Kreuz und verstirbt daraufhin. Gott hat am eigenen Leib erfahren, was es bedeutet, sich von Gott verlassen zu fühlen. Mit dem Gefühl: „Gott, du bist mir so fern“, stehen wir also nicht alleine da. Gott ist jemand, der gerade in Zeiten der Verunsicherung und der Krise uns ganz besonders nahe ist.

Gott leidet also mit den Menschen mit. Er kennt unsere Gefühle und speist uns nicht ab mit billigem Trost. Ich kann mich noch an den Anfang der Corona-Maßnahmen in Österreich erinnern. Es wurde zu Beginn geschickt kommuniziert: „Das geht alles wieder bald vorbei. In zwei Wochen ist die Sache gegessen.“ Wie wir mittlerweile wissen, kam es so leider nicht. Nicht einmal die Osterfeierlichkeiten in den Familien konnten gefeiert werden. Selbst das gewohnte kirchliche Leben wich den Online-Andachten, den Fernsehgottesdiensten, den Briefen und so weiter. Wir wurden von zahlreichen Menschen vertröstet, die sagten: „Bald werden wir wieder miteinander unser gewohntes Leben leben können.“ Für die meisten Menschen ist genau das aber nicht mehr möglich. Für Menschen, die ihren Beruf nicht mehr ausüben können, weil sie ihre Arbeit verloren haben, wird es ein Zurück in die „Normalität“ nicht so rasch geben können. Die Menschen, die sich um die Corona-Patienten kümmerten und zusehen mussten, wie man ohne eine Hilfsmöglichkeit die Patienten verlor. Gastronomen, die ihre Lokale neu vermessen und die Hoffnung nicht aufgeben, dass der Betrieb überleben könnte: Für sie alle wird es noch lange dauern, bis man ein halbwegs normales Leben führen kann. Man sollte sehr vorsichtig sein, solchen Menschen rosige Zukunftsphantasien zu malen. Oft ist die Anteilnahme die ehrlichere Form, denn sie wird den Menschen in ihrer Lebenslage gerechter. Gott gibt uns zu dieser aufrichtigen Anteilnahme ein Beispiel indem er mit den Betroffenen das Leid teilt. Und das ist meiner Meinung nach ein sehr tröstlicher Gedanke.

Thomas Müller