500 Jahre Martin Luther (1/2)

[25.09.2021]

„Hier stehe ich, ich kann nicht anders! Gott helfe mir, Amen!“

Ein ehemaliger Augustinermönch fährt nach Worms. Eine Stadt, in welcher der Reichstag stattfand. Hier tagte das politische Zentrum des mittelalterlichen Reiches. Wir schreiben das Jahr 1521. Die mittelalterliche Welt gerät langsam aber zugleich heftig aus ihren Fugen. Die lang geltende Einheit zwischen Reich und Kirche droht zu zerfallen. Martin Luther, ein Theologieprofessor aus Wittenberg, wagt sich theologisch aus der Deckung. Er spricht aus, was ihm an der Kirche seiner Zeit nicht passt. Viele Menschen dachten damals ähnlich wie er. Aber er war es letztendlich, der den vorgegebenen Rahmen verließ, um seine Reformideen zu verbreiten.

ehemalige Mönch entscheiden? Luther machte einen unsicheren Eindruck. Vielleicht wurde er sich erst hier seiner Taten bewusst, als die geballte Macht des Mittealters ihm in Präsenz gegenübersaß. Bisweilen kommunizierte man lediglich via Distance-Writing. „Ich brauche noch einen Tag Bedenkzeit“, tat Luther kund.

Ein Raunen ging durch die Menge: Doch nur ein Schwätzer, der große Ankündigungen macht, aber im rechten Moment den Mund hält und seine Chance verstreichen lässt. Das kleine ehemalige Mönchlein knickt wie ein vertrocknetes Schilfrohr vor der Macht ein. Doch man gewährte ihm die Zeit. Am nächsten Tag, es war der 18. April 1521, begann die Befragung von neuem. Vielleicht erwarteten sich manche Mitstreiter nicht mehr viel. Vielleicht suchten sie schon nach neuen politischen Ausweichmöglichkeiten, um die Schmach abzumildern. Erneut wurde der Mann gefragt: „Wirst du deine Schriften widerrufen?“ Luther antwortete, doch diesmal gab er nicht klein bei:

„Da mein Gewissen in den Worten Gottes gefangen ist, kann ich und will nichts widerrufen, weil es gefährlich und unmöglich ist, etwas gegen das Gewissen zu tun. Gott helfe mir. Amen!“

Lug und Trug

Moment! Da fehlt doch eine zentrale Stelle, die Luther zusätzlich gesagt hat, oder? Wo ist der Ausrufesatz: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders!“? „Alles nur Lug und Trug“, behaupten einige Kirchengeschichtler. Ein toller PR-Coup der Reformatoren. Ein Satz, der sich in den Verhandlungsprotokollen nicht wiederfindet. Eine frühe Lüge, die Luther zum Glaubenshelden hochstilisiert und die letztendlich für all das herhalten muss, was der Protestantismus weltweit so alles verbrochen haben möge. Ein Satz, der für „deutsches Selbstbewusstsein“ sorgte, von Friedrich dem Großen zugespitzt wurde und letztendlich im Nationalismus enden musste.

Nach dem Reichstag wurde vom Kaiser über Luther die „Reichsacht“ verhängt. Jeder Mann konnte Luther nun töten und musste mit keinen strafrechtlichen Konsequenzen rechnen. Kurfürst Friedrich entführte Luther daher auf die Wartburg, um ihn vor Übeltätern zu bewahren. Und während dieser Zeit traf eine Mitschrift von Luthers Rede in Wittenberg ein. Darin war der Satz: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“, enthalten. In einer anderen Mitschrift eines anderen Teilnehmers ist der Satz

Das tat er zuvor, als er zahlreiche Bücher in deutscher und verständlicher Sprache publizierte. Luther wurde durch das damals neue Medium „Flugblatt“ allerorten gelesen und verbreitet. Das brachte ihm nicht überall Freunde ein. „Viel Feind, viel Ehr“, konterte er. Die Reichskirche dagegen versuchte seine Ideen aus der Welt zu schaffen, versuchte mit ihm ähnlich zu verfahren, wie man es gut hundert Jahre zuvor mit Jan Hus in Konstanz tat: Kirchliches Verfahren und Scheiterhaufen. Ketzer war Luther bereits, als er nach Worms fuhr. Seine Kirche exkommunizierte ihn im Januar 1521. Dass ihm dieses kirchliche Verfahren erspart blieb, hatte er dem Kurfürsten von Sachsen und vielen anderen Unterstützern zu verdanken. Er traf in Worms ein. Der mächtige Kaiser Karl V., seine Berater und Gesandten waren anwesend. Die Kurfürsten erwarteten ihn und waren gespannt. Und zuletzt hofften die zahlreichen kirchlichen Würdenträger, dass am Reichstag die „Causa Lutheri“ endgültig ihr lang ersehntes Ende fand.

Sitzung in Präsenz

„Wirst du deine Schriften widerrufen?“, wurde der Weitgereiste gefragt. Und es kam der Frage gleich: „Willst du dich selbst verleugnen und gegen das, was du glaubst und hoffst, aussagen? Willst du damit für immer schweigen und zur alten Normalität zurückkehren, auch wenn du damit nicht zufrieden bist?“ Das Reich hielt den Atem an. Wie wird sich der wiederum nicht enthalten. Möglich also, dass ihn Luther tatsächlich nicht gesagt hat. Letztendlich ist der Satz nur ein Mythos, den man um seinen Glaubenshelden gestrickt hat.

Mythos und Wahrheit

Benjamin Hasselhorn hielt in seinem Buch „Tatsache“ fest, dass man den Mythos stets unterschätze und vorab verurteile. Ein Mythos, egal ob religiös, politisch oder historisch, erklärt, warum etwas so ist, wie es ist. Historische Mythen haben auf jeden Fall mit historischen Realitäten zu tun, gleich ob man sie als Manipulation oder erzählerische Verdichtung der Realität einstufen mag.

Wenn man unseren Kirchenmenschen so zuhört, sobald sie über den Reichstag zu Worms sprechen müssen, dann kommt meist gleich zu Beginn die historischkorrekte Abkanzelung des Mythos zur Sprache: „Das hat Luther ja nicht wirklich gesagt“. Ein obligatorisches „Tut uns leid, Welt“ wird meist bei der Besprechung des Ereignisses in Worms vorangestellt, bevor man überhaupt erst zum umstrittenen Satz gelangt. Mythen haben in der evangelischen Kirche einen schweren Stand.

Es ist einerseits nur ein Satz, um den es sich hier handelt. Luthers Eintreten für die persönliche Gewissensfreiheit des Einzelnen wird mit oder ohne diesen Satz kaum geschmälert. Andererseits ist dieser Satz zu dem geflügelten Wort avanciert, welcher die Geschehnisse in Worms mehr oder weniger zu verdichten scheint. Ein Satz, der aber zugleich auf die viel wichtigere Botschaft verweist: Das Gewissen eines Christenmenschen ist in Gottes Wort gefasst und daher heilig. Rüttelt die Maschinerie der Entmythologisierung an diesem Satz, der in den deutschen Wortschatz übergegangen ist, so sollte ihr bewusst sein, woran sie letztendlich rüttelt. Das Rütteln selbst stellt dabei nicht das Problem dar, viel eher ist es die Geringschätzung des Mythos und was er uns heute noch sagen kann, nämlich die von Gott zuerkannte Gewissensfreiheit des Einzelnen.

Thomas Müller