In Bewegung sein – in Bewegung bleiben

[2019-12-19]

Wenn man an den Beruf des Hirten denkt, dann kommen einem viele Assoziationen in den Sinn: Von der Naturverbundenheit über die Nähe zu den anvertrauten Tieren bis hin zu unsteter, nomadisierender Lebensweise. Jeden Tag woanders, immer auf dem Weg sein. Für uns heutige Menschen, denen die Sesshaftigkeit als die logische Lebensform erscheint, ist dieser Gedanke des permanenten Umherziehens wahrscheinlich eher ein fragwürdiger, unsicherer. Zumindest, wenn man ihn sich nicht romantisierend, sondern als reales Alltagsszenario vorstellt. Wir leben heute einfach anders. Punkt. So ist es halt.

Aber es war nicht immer so. Lange Zeit war das Nomadentum in der Geschichte der Menschheit die vorherrschende Lebensform. Aus unserer heutigen Sicht haben wir uns weiterentwickelt, den nächsten Schritt gemacht. In gewisser Weise stimmt das auch. Aber was wenige wissen: Diese Weiterentwicklung hat Jahrtausende gedauert. Beim Umstieg von der nomadischen Lebensweise auf die sesshafte war hunderte, ja tausende Jahre eigentlich das Gegenteil der Fall. Die Lebenszeit des Menschen hat sich damals drastisch verkürzt. Während Nomaden häufig an die 60 – 70 Jahre oder mehr alt wurden, starben die Siedlerkulturendurchschnittlich wesentlich früher. Krankheiten und vor allem Seuchen konnten sich erst dort so richtig verbreiten, wo der Mensch an einem Platz blieb. Wer sich näher für diese spannenden Aspekte der Menschheitsentwicklung interessiert, dem sei das lesenswerte (aber nicht ganz dünne) Buch „Die Bibel – das Tagebuch der Menschheit“ von zwei niederländischen Historikern empfohlen.

Keine Angst, dieser Text soll kein Plädoyer dafür sein, dass wir uns wieder zum Nomadentum bekehren. Aber er möchte über das Stichwort des „Hirten“ zum Nachdenken anregen. Letztlich bedeutet „in Bewegung sein“ ja nicht nur körperliches In-Bewegung-Sein sondern auch geistiges. Wie wäre es, das geistige Nomadentum wieder etwas mehr zu pflegen? Geistig beweglich bleiben, tolerant bleiben, offen für Neues, Anderes? Vielleicht macht uns unsere sesshafte Lebensweise manchmal auch geistig träge? Vielleicht nehmen wir uns an unserer Lebensweise des „An-einem-Ort-Bleibens“ manchmal zu sehr ein Beispiel und werden auch geistig zu „Auf-einem-Standpunkt-Bestehern“? Geistige Beweglichkeit könnte ein Ziel, könnte ein Wert auch in einer sesshaften Kultur sein, dass es sich zu verfolgen lohnt.

Und eigentlich hängt geistige und körperliche Beweglichkeit enger zusammen, als uns vielen oft bewusst ist. Gandhi, dessen Salzmarsch große Berühmtheit erlangt hat, hat einmal sinngemäß gesagt: Wer Beschwerden hat, der suche keinen Arzt, sondern mache sich auf die Beine. Im Gehen werden Körper und Seele frei, und können neue Wege finden. Ilija Trojanow hat einen lesenswerten Essay über das Reisen geschrieben; ein Plädoyer dafür, sich auf den Weg zu machen, um neue Kulturen zu entdecken, Kontakt zu anderen Menschen zu knüpfen, als Alternative zum touristischen Reisen, das eigentlich auch wieder nur eine Form der „verschobenen“ Sesshaftigkeit ist. Man tauscht eben das eigene Heim mit dem Hotel, dem Ferienclub etc…. Wirklich auf den Weg komme man so nicht, das ist die Grundaussage des Essays. Wirklich auf den Weg kommt man, wenn man über die körperliche Bewegung (die Reise) auch hin zur geistigen Bewegung (in Kontakt zum anderen Menschen, zur anderen Kultur) kommt.

Aber Hand aufs Herz: mit der Körperlichkeit steht unsere christliche Kultur ja auch ein wenig auf Kriegsfuß? Oder, wie es Gotthold Ephraim Lessing einmal sinngemäß gesagt hat: Die christliche Religion mit ihrer „Leibfeindlichkeit“ hat auch viel Unheil angerichtet. Das Christentum kann es sich nicht auf die Fahnen schreiben, in seiner Tradition ein besonderer Verfechter der gleichwertigen Einheit von Körper, Geist und Seele gewesen zu sein.

Dabei haben wir im Neuen Testament doch das Beispiel klar und deutlich vor Augen: Jesus war in jeder Hinsicht ein Mensch in Bewegung. Nicht nur, dass er eine neue Religion begründet hat, die als Fundament bis heute Bestand hat. Jesus war ein Nomade im besten Sinne. Immer auf dem Weg, immer bei den Menschen, zu den Menschen hin. Was wäre wohl aus dem Christentum geworden, wäre Jesus nicht wie ein Hirte stets umhergewandert, sondern hätte irgendwo in einer Hütte darauf gewartet, dass die Menschen zu ihm kommen?

Hartmut Schwaiger