Schöpfungsmythos und Menschenpflichten

[04.05.2022]

Prolog: Heute ist Freitag, der 4. Februar 2022, und in wenigen Stunden werden die 24. Olympischen Winterspiele in Peking eröffnet. Die Medien haben uns in den letzten Tagen auf dieses Ereignis verstärkt vorbereitet. Aber im Gegensatz zu früheren Olympiaden standen dieses Mal weniger die teilnehmenden Sportler als vielmehr die Rahmenbedingungen der Spiele im Fokus ihrer Berichterstattung – die strikten Regeln des autokratischen, chinesischen Staates und vor allem die Situierung und Architektur der Sportstätten. Bald wurde klar, dass die vom Internationalen Olympischen Komitee bei der Vergabe eingeforderte Nachhaltigkeit leider schon im Vorfeld ad absurdum geführt wurde. Die Nachnutzung der gesamten Region und ihrer sportlichen und touristischen Infrastruktur ist vorerst noch unbekannt, die biologische Nachhaltigkeit aber bleibt durch die teilweise Zerstörung eines Naturschutzgebietes durch gigantomanischen Sportstättenbau und ausschließlicher Abhängigkeit von Kunstschnee bereits jetzt unerfüllt.

Zurück in den Alpen: Als Vorsitzender der örtlichen Alpenvereinssektion Hallein und deren Naturschutzreferent wurde ich eingeladen, zum Thema „Schöpfung“ und ihrer Bewahrung einige Einblicke und Fakten, die sich auch aus meiner Funktionstätigkeit ergeben, diesem Gemeindebrief beizusteuern.

Unsere Alpen sind ein einzigartiges, ökologisches System mit vier Grundfunktionen: Naturraum, Lebensraum, Kulturraum und Wirtschaftsraum: Und dieses sensible Gebilde sollte idealerweise im Gleichgewicht sein.

Ursprünglich waren die Alpen ein wenig begehrter Lebensraum, für die Menschen ein Hindernis und eine Überquerung äußerst beschwerlich. Von frühen historischen Stätten der Metallgewinnung abgesehen, wurden erst ab dem Mittelalter Landwirtschaft, Jagd und Bergbau eine Existenzgrundlage für eine Dauerbesiedelung durch Menschen. Die Hochgebirgs- regionen mit ihren Gefahren blieben weiterhin unberührt.

Erst im 18. und 19. Jahrhundert begann die gezielte Erkundung der Gebirgsregionen. Sport, Forscherdrang und Naturerlebnis waren die Triebkräfte. Erst jetzt kam es zu den ersten Besteigungen von markanten Gipfeln (1786 Mont Blanc, 1800 Großglockner, 1832 Dachstein) und der Bau von Eisenbahnlinien (1854 Semmeringbahn, 1860 Westbahn, 1884 Arlbergbahn) erleichterte zeitlich und finanziell die Anreise in die Bergregionen.

Die Gründung des Österreichischen Alpenvereins im Jahre 1862 war ein „Kind seiner Zeit“, in der die erschwerten Lebensbedingungen ausgelöst durch die Industrielle Revolution eine wachsende Naturbegeisterung der Bevölkerung zur Folge hatten. Die Schönheiten der Landschaft, die Urgewalten der Natur, Sonnen-Auf- und Untergänge bekamen plötzlich eine nie gekannte, emotionelle Bedeutung. Auf diesem Hintergrund entstanden auch in unserer näheren Umgebung ÖAV-Sektionen in Salzburg (1870), Berchtesgaden (1875), Golling (1880) und Hallein (1884).

Waren bei der Gründung des ÖAV noch Aufgaben, wie „die Kenntnis von den Alpen zu verbreiten, die Liebe zu ihnen zu fördern und die Bereisung zu erleichtern“, als Vereinszweck festgeschrieben, so wurde in den folgenden Jahrzehnten deutlich, dass der Alpenverein für den ständig wachsenden Tourismus nun Lenkungsmaßnahmen vorzuschlagen hatte und die Rolle als „Anwalt der Alpen“ übernehmen musste. So wurde im Jahr 1927 in seine Vereinssatzung die „Erhaltung der Ursprünglichkeit und Schönheit des Hochgebirges“ als Ziel aufgenommen, 1970 ein umfangreiches Naturschutzprogramm festgeschrieben und 2013 das erweiterte „Grundsatzprogramm zum Schutz und zur nachhaltigen Entwicklung des Alpenraumes sowie zum umweltverträglichen Bergsport“ zusammen mit dem „Deutschen Alpenverein“ und dem „Alpenverein Südtirol“ einstimmig beschlossen.

Als anerkannte Umweltorganisation hat der ÖAV seit 1994 bei Projekten mit erheblichen Umweltauswirkungen – wie Straßen, Schigebiete, Kraftwerke, Windräder, Hochwasserschutz, Stromleitungen, Industrieanlagen, usw. – laut Umweltverträglichkeits-Gesetz UVP-G-2000 Parteienstellung im Genehmigungsverfahren.

In Bezug auf die Schöpfungsgeschichte im ersten Buch Mose, in der die „Erschaffung der Welt“ abgebildet wird, könnte man nach heutiger biologischer Klassifizierung ihren Zustand nach fünf Tagen als primäre Wildnis bezeichnen, eine Wildnis, die man derzeit in Mitteleuropa nur mehr selten findet.

In den beiden Pongauer Sulzbachtälern im Nationalpark Hohe Tauern sind wir in der glücklichen Lage, noch knapp 7000 Hektar primäre Wildnis als Sonderschutzgebiet ausweisen zu können. „Natur Natur sein lassen“ gilt hier als Motto, „Aufräumungsarbeiten“ nach Unwettern erledigen in diesen Biotopen nicht Menschen mit Kettensägen, sondern Heerscharen von Tieren und Pflanzen. Wir erleben dabei eine hohe Biodiversität (Artenvielfalt) in einem scheinbaren Chaos – eine phantastische, ungewohnte Ästethik!

Hingegen bezeichnet man eine Rückführung von bereits vom Menschen genutzten Gebieten in ein unbeeinflusstes Ökosystem, quasi ein nachträgliches Verwildern, als „sekundäre Wildnis“.

Am sechsten Tag schuf Gott den Menschen als sein Ebenbild und hat ihm Pflichten zum Bebauen und Bewahren auferlegt. Durch Rodung und Urbarmachung entstanden allmählich erste Kulturlandschaften, wie wir sie etwa von unseren Almen kennen.

Man könnte diese Natur- und Kulturräume auch mit den Kern- bzw. Außenzonen unserer Nationalparks vergleichen. Ihre Erforschung und ihr Schutz gehören zu den Kernaufgaben der Abteilung Naturschutz und Raumplanung des ÖAV.

Das eingangs beschriebene, sensible, ökologische System unserer Alpen gerät heute zusehends in ein eklatantes Ungleichgewicht. Die Übernahme von Schutzaufgaben und Problemlösungen stellt für alpine Vereine eine immer größer werdende Herausforderung dar. Diese zu bewältigen, gelingt oft nur durch eine verstärkte Zusammenarbeit mit befreundeten Organisationen, wie den Österreichischen Naturfreunden, dem Naturschutzbund oder dem Umweltdachverband.

Die vermeintliche „Krone der Schöpfung“ Mensch hat sich der Herrschaft über die Natur bemächtigt und Jahrhunderte lang haben sich auch christliche Kirchenväter und Kirchenlehrer ihr Beherrschungszenario zurechtgelegt, während philosophische Strömungen diese Entwicklung zeitgleich infrage stellten. Ethisch und im Sinne des Humanismus sind heute Grundwerte, wie der Respekt vor der Würde aller Geschöpfe, in fast allen nationalen Verfassungen verankert. Einen Markstein stellt die „Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten“ durch die Vereinten Nationen im Jahre 1997 dar. Diese fordert die Ehrfurcht vor dem Leben und schließt Menschen, Tiere, Pflanzen, Erdboden, Wasser und Luft mit ein.

Von Paul Claudel (1868 bis 1955), einem französischen Schriftsteller, Dichter und weitgereisten Diplomaten im konsularischen Dienst, findet man in seinem reichen literarischen Werk auch diese bemerkenswerte Aussage:

Bevor man die Welt verändert, wäre es vielleicht doch wichtiger, sie nicht zugrunde zu richten!

Wolfgang Guttmann