Wer bin ich?

[29.03.2022]

Wohl der aktuell bekanntesten evangelischen Persönlichkeit widmeten die beiden Referenten Pfarrer Dr. Peter Gabriel und Hofrat Mag. Peter Pröglhöf ihren Vortrag. Doch der evangelische Pfarrer ist auch bei den Katholiken sehr gut bekannt. An diesem Abend konnten die Besucher der Fastenaktion interessante Hintergrundinformationen erhalten. Nachstehend die Inhalte der Referate – großteils in Stichworten – für all jene, die nich perslnlich dabei sein konnten.

Hofrat Mag. Peter Pröglhöf (links) und Pfarrer Dr. Peter Gabriel

Zur Person Dietrich Bonhoeffer

Dietrich Bonhoeffer – sicher einer der bekanntesten evang. Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts, oft als evangelischer „Heiliger“ bezeichnet

  • Auch in röm.kath. Kirche sehr populär, sein Lied „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ kennen u. schätzen viele Menschen, oft bei Trauerfeiern gesungen
  • Bonhoeffer gilt heute als christl. Märtyrer, also als einer, der für seinen christlichen Glauben und auf Grund seiner konsequenten Nachfolge in Tod gegangen ist
  • war nach Kriegsende ganz anders: Evang. Kirche in Bayern verweigert Würdigung, gilt nicht als Märtyrer im christlichen Sinn, da beteiligt am Tyrannenmord
  • Bekannt vor allem seine berührenden spirituell-geistlichen Texte wie Gedicht „Wer bin ich“ aus Gefängniszelle, aus dem Überschrift des Abends stammt
  • Für mich zeichnet sich Bonhoeffer durch sein Gottvertrauen aus, ebenso durch sein, immer wieder kritisches Fragen und auch Leben, was Nachfolge heute (d.h. für ihn in Zeit des Nationalsozialismus) bedeuten kann
  • Aber auch durch seinen Weitblick, seine scharfe und klare Sicht auf den Nationalsozialismus
  • Beide Aspekte sollen heute beleuchtet werden – im Wissen, an einem Abend nicht „ganzen Bonhoeffer“ zu Gehör bringen zu können, sond. nur Auswahl, die zur weiteren Beschäftigung anregen soll
  • Viele seiner Aussagen bis heute hochaktuell – gerade in unserer Situation der Corona-Pandemie und des Krieges gegen die Ukraine

Biografische Daten, Stellung zur NS-Diktatur, seine Gefängnisgedichte sowie sein Vorschlag für gemeinsames christliches Leben

Pfarrer Dr. Peter Gabriel

Lebenslauf, Biographisches

  • Geboren 4.2.1906 in Breslau, gutbürgerliche Verhältnisse, Vater Karl Bonhoeffer, Universitätsprofessor für Psychiatrie und Neurologie, 7 Geschwister, Zwillingsschwester Sabine – behütetes Elternhaus mit Atmosphäre der Liebe; Mutter übernimmt Großteil der Erziehung der Kinder, gerade auch im christlichen Sinn
  • 1912 Übersiedlung nach Berlin
  • Viele Diskussionen, kritisches Potential, eigenwillig u. selbstbewusst, non-konform: eig. Meinung finden, Mund auftun: Hinwendung zur Theologie trotzdem überraschend
  • 1923-1928 Studium der Evang. Theologie in Tübingen und Berlin (1927 Promotion über die Kirche „Sanctorum Communio“)
  • 2 Seiten: Wissenschaft u. Pfarramt, viele gegensätzliche Einsatzgebiete, Erfahrungen
  • 1928 Vikariat in der deutschen Auslandsgemeinde in Barcelona/Spanien
  • 1929-1930 Assistent Uni Berlin, Studienaufenthalt in New York (1930/31) – beeinflusst seine Frömmigkeit (Gospelgottesdiensten mit schwarzen Christen, sieht Armut)
  • 1931-1933 Privatdozent Uni Berlin, Studentenpfarrer (Ordination 15.11.31), Konfirmandenunterricht im Wedding (Erzählung ehem. Konfirmandin – sieht Armut; seine Mutter näht Konfirmationsanzüge)
    Jugendsekretär des Weltbundes für Freundschaftsarbeit der Kirchen: Konferenz in Cambridge – Arbeit in und für die Ökumene (viele Kontakte)
  • 1933-1935 Pfarrer der deutschen Gemeinde in London (22.-30.8.1934 ökum. Friedens-Konferenz in Fanö – Friedensrede „Christen können nicht die Waffen gegeneinander richten, weil sie wissen, dass sie damit die Waffen gegen Christus selbst richten“
  • Dort als Teilnehmer der BK: wer ist rechtmäßige Kirche in Deutschland?

Kirchliche Situation in Deutschland

Der demokratische Aufbau der Evang. Kirche ermöglicht Aufstieg des NS in Kirche: von Hitler unterstützte Partei der „Deutschen Christen“ (DC) gewinnt bei Kirchenwahlen 1932 fast ein Drittel der Sitze in Gremien der Evang. Kirche

Ziele

  • Schaffung einer einheitlichen Reichskirche (damals 28 selbständige Landeskirchen) unter einem Reichsbischof (Führerprinzip): 27.9.1933 Wahl von Hitlers Vertrautem Wehrkreispfarrer Ludwig Müller – „Gleichschaltung“
  • Germanisierung des Christentums: Begriff Volk als theolog. Größe, arisches/ deutsches Christentum, Herabsetzung des AT, Ausscheidung jüdischer Elemente
  • Einführung des „Arierparagraphen“ (Kirchengesetz 6.9.1933): Verlust Pfarrstelle, auch wenn mit Jüdin verheiratet – NS: Rasse-Kriterien, keine relig., geht also um getaufte Christen mit jüdischen Vorfahren
  • Widerstand gegen DC: „Jungreformatorische Bewegung“, „Pfarrernotbund“ (Martin Niemöller – gegen Arierparagraph), „Bekennende Kirche“ (BK)
  • Abwehr gegen DC, indirekt aber auch gegen Hitler: tun sich schwer wegen Obrigkeitshörigkeit: Röm. 13,1 „untertan der Obrigkeit“; Luthers 2-Reiche-Lehre
  • Viele BK-Pfarrer werden verfolgt, landen im KZ (Niemöller von 1937-45)
  • Proteste gegen Euthanasieprogramm, Büro Grüber (Auswanderungshilfe für Juden), aber kaum offizielle Proteste gegen Judenverfolgung
  • BK schafft eigene Gegen- oder Untergrundkirche:
    – Abhaltung von Synoden: Barmer Theol. Erklärung (Barth, Asmussen, EG 810)
    – eigenes Leitungsgremium (Bruderrat als vorläufige Kirchenleitung)
    – eigenes Predigerseminar für Ausbildung der Vikare
  • 1935-1937 Bonhoeffer = Leiter des Predigerseminars der BK in Zingst u. Finkenwalde, 1937-1940 Sammelvikariate in Hinterpommern: „Nachfolge“ (1937); als nachträglicher Erfahrungsbericht des schon beendeten Experimentes „Gemeinsames Leben“ (1938): christl. Gemeinschaft als Geschenk Gottes; geordneter Tagesablauf, Andachten (Wort, Lied, Gebet), Schriftmeditation; brüderliche Seelsorge u. Hilfe; Beichte u. AM
  • 1936 Entzug der Lehrerlaubnis; 1938 Ausweisung aus Berlin (außer Besuch bei Eltern, dort Zimmer im Elternhaus als Rückzugsort; deswegen auf Fürbittenliste der BK)
  • 1939 Vorträge in England und Amerika, bewusste Rückkehr Juli (Angebot einer Professur): f. ihn klar, muss als Deutscher in Deutschland sein, auch wenn gefährlich; nicht vor gestellter Aufgabe fliehen, auch als Pfarrer sein Leben f. politische Freiheit einsetze
  • 1940 öffentliches Redeverbot; 1941 allgemeines Veröffentlichungsverbot
  • 1940 Anschluss an den politischen Widerstand
  • 17.1.1943 Verlobung mit Maria von Wedemeyer
  • 5.4.1943 Verhaftung, Gefängnis Berlin-Tegel (Zelle wird Studierzimmer, „angenehme Haftbedingungen“, Text „Wer bin ich“) – dann Nachweis, dass Mitwisser u. -wirker am Stauffenberg-Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944
  • 8.10.1944 Überführung in Gestapo-Gefängnis Prinz-Albrecht-Str. (letzter Text Silvester 1944 „Von guten Mächten“)
  • 7.2.1945 Verlegung ins KZ Buchenwald
  • 9.4.1945 Hinrichtung im KZ Flossenbürg (auf ausdrücklichen Befehl Hitlers)

Stellung zum Nationalsozialismus und Widerstand gegen den NS-Diktatur

  • 1.2.1933 Rundfunkvortrag zum Führerbegriff: „Der Führer und der Einzelne in der jungen Generation“(2 Tage nach Machtergreifung; vorzeitig unterbrochen / abgeschaltet)
    Der Mensch u. insbesondere der Jugendliche wird so lange das Bedürfnis haben, einem Führer Autorität über sich zu geben, als er sich selbst nicht reif, stark, verantwortlich genug fühlt, den in diese Autorität verlegten Anspruch selbst zu verwirklichen. Der Führer wird sich dieser klaren Begrenzung seiner Autorität verantwortlich bewusst sein müssen. Versteht er seine Funktion anders, als sie so in der Sache begründet ist, gibt er nicht dem Geführten immer wieder klar Auskunft über die Begrenztheit seiner Aufgabe u über dessen eigenste Verantwortung, lässt er sich von dem Geführten dazu hinreißen, dessen Idol darstellen zu wollen – und der Geführte wird das immer von ihm erhoffen -, dann gleitet das Bild des Führers über in das des Verführers, – Abbruch der Übertragung!
    Dann handelt er unsachlich (ursprüngl. verbrecherisch) am Geführten wie an sich selbst. Der echte Führer muss jederzeit enttäuschen können. Das gerade gehört zu seiner Verantwortung und Sachlichkeit. Er muss die Geführten von der Autorität seiner Person weg zur Anerkennung der echten Autorität der Ordnungen und des Amtes führen. Der Führer muss den Geführten hineinführen in die Verantwortlichkeit gegenüber den Ordnungen des Lebens, gegenüber Vater, Lehrer, Richter, Staat. Er muss sich dem Reize, der Abgott, das heißt die letzte Autorität des Geführten, zu werden, radikal versagen. In aller Nüchternheit muss er sich auf seine Aufgabe beschränken. Er dient der Ordnung des Staates, der Gemeinschaft, u sein Dienst kann von unvergleichlichem Wert, ja er kann unentbehrlich sein. So weist der Führer auf das Amt, Führer u Amt aber auf die letzte Autorität selbst, vor der Reich und Staat vorletzte Autoritäten sind.“

Die Kirchen vor der Judenfrage

Im Vortrag am 15.4.1933 „Die Kirchen vor der Judenfrage“, wendet sich Bonhoeffer früh gegen Arierparagraphen (jüd. Schwager Gerhard Leibholz, Sabine; Freund Pfr. Franz Hildebrandt)

  • Aufgabe des Staates, für Recht u. Ordnung zu sorgen, auch im Blick auf Judenfrage
  • Kirche kann von Staat nicht konkretes politisches Handeln fordern, aber nachfragen, ob staatl. Handeln korrekt bzw. legitim ist (einzelner Christ kann aber sehr wohl Staat als inhuman anklagen)
  • Vor allem bei 2 Grenzüberschreitungen: „ein Zuwenig an Ordnung u. Recht und ein Zuviel an Ordnung und Recht“
  • Dann „dreifache Möglichkeit kirchlichen Handelns dem Staat gegenüber“:
    a) Hinweis, seine Aufgabe, Recht u. Ordnung zu schaffen
    b) um Opfer staatlichen Handelns kümmern, ohne danach zu fragen, ob diese Glieder der christl. Gemeinde sind
    c) in extremer Situation, bei Versagen des Staates, muss Kirche unmittelbar politisch handeln, dann Kirche dazu verpflichtet, „nicht nur Opfer unter Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu fallen.“
  • Im Blick auf Juden: Rechtlosmachung = zu wenig an Ordnung u. Recht; zu viel wäre z.B. Verbot der Judenmission oder Ausschluss getaufter Juden aus christl. Gemeinden
  • Kirche kann sich ihr Handeln gegenüber ihren Gliedern nicht vom Staat vorschreiben lassen; Judentum für Kirche niemals rassischer, sond. religiöser Begriff
  • Bedeutet Status Confessionis für Kirche – muss evang. Konzil entscheiden
    Bonhoeffer denkt hier wohl noch nicht an Tyrannenmord, eher in weiterem Bildwort:
    Wenn ein betrunkener Autofahrer mit hoher Geschwindigkeit den Kurfürstendamm herunterrase, könne es nicht seine, des Pfarrers, einzige Aufgabe sein, die Opfer des Wahnsinnigen zu beerdigen und deren Angehörige zu trösten; wichtiger sei es, dem Betrunkenen das Steuerrad zu entreißen.“ (1943/44 im Gefängnis)
  • 1935 fordert von BK-Synode in Augsburg Stellungnahme zur Judenfrage (Nürnberger Rassengesetze); Idee eines Pfarrerstreiks bei Ausstellung der Ariernachweise
  • Kirche als „Kirche für andere“: „Wer nicht für die Juden schreit, kann nicht gregorianisch singen“; „Sie war stumm, wo sie hätte schreien müssen, weil das Blut der Unschuldigen zum Himmel schrie.“ (Ethik 1940
  • 1938 gegen Pfarrer-Treueeid auf Hitler – Entzweiung von BK (Niedergang)
  • ab 1938 Anschluss an politischen Widerstand: Hans Oster (Dienststelle Oster der Abwehr) und Hans von Dohnanyi, Schwager Bonhoeffers (NS-Skandalchronik)
  • wird zum Mitwisser und Mittäter der militärischen Abwehr (ziviler Abwehrmann) – Formen des Widerstandes (vgl. Bethge, S. 890)
  • einfach passiv – offen ideologisch – Mitwisserschaft an Umsturzversuchen – aktive Vorbereitungen für das Danach – aktive Konspiration: Verstoß gegen das 5. Gebot, dafür keine kirchl. Deckung bzw. Rechtfertigung – Bewusstsein, so oder so Schuld auf sich zu laden: „Schuld, Gelegenheit zu versäumen oder auch leichtfertig zu handeln (Schuld annehmen)“
  • ab 1940: Doppelleben – Arbeit für BK (Visitator), Arbeit an „Ethik“ u Engagement im polit. Untergrund (Übernahme Aufgaben Verschwörung; Unabkömmlichkeitserklärung
  • 30. Oktober 1940: Bonhoeffer der Abwehrstelle München zugeordnet, steht im Dienst des NS-Staates – bei gleichzeitigem Redeverbot, Schreib- u. Veröffentlichungsverbot
  • Kurier der Widerstandsbewegung (Hochverrat); verhilft Juden zur Flucht
  • 1941/42 Reisen in die Schweiz, nach Norwegen und Schweden, Italien (Kontakt mit Bischof Bell); Aufgabe: ausländische Freunde von Existenz des Widerstandes informieren, Friedensziele nach Tod Hitlers auf alliierte Seite erkunden (wird schwieriger durch Entschluss zur „Endlösung der Judenfrage“); Entwickl. zukünftiger Strukturen
  • Seine Kirche folgt ihm nicht auf diesem Weg: nicht auf Fürbitteliste der BK; bei Einweihung Gedenktafel in Flossenbürg 1953 fehlt bayrischer Landesbischof
  • 5.4.1943 Verhaftung nach gescheitertem Putschversuch von März 1943 (Anklage wegen „Zersetzung der Wehrkraft“), stellt sich freiwillig der Gestapo
  • Zeit im Tegeler Gefängnis (Verhöre): Versuch, wahre Tatbestände zu verschleiern; Hoffnung auf Versanden der Angelegenheit
  • Hält auch im Gefängnis an seiner täglichen Ordnung fest: Bibellese, Gebet, Meditation; Vertrauensverhältnisse zu Wachsoldaten (Knobloch), kümmert sich um Mitinhaftierte; Lektüre und theologisches Arbeiten („Widerstand und Ergebung“, darin Texte und Briefe: Gedicht „Wer bin ich?“)
  • Neujahr 1943: selbstformuliertes Glaubensbekenntnis
    „Ich glaube, daß Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen. Ich glaube, daß Gott uns in jeder Notlage soviel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. In solchem Glauben müßte alle Angst vor der Zukunft überwunden sein. Ich glaube, daß auch unsere Fehler und Irrtümer nicht vergeblich sind, und daß es Gott nicht schwerer ist, mit ihnen fertig zu werden, als mit unseren vermeintlichen Guttaten. Ich glaube, daß Gott kein zeitloses Fatum ist, sondern daß er auf aufrichtige Gebete u. verant-wortliche Taten wartet und antwortet.“
  • 8.10.1944 Überführung in Gestapo-Gefängnis Prinz-Albrecht-Str., Zelle im Keller (22.9. Gestapo findet im Zossener Hauptquartier Beweise an Mitwirkung Bonhoeffers am Stauffenberg-Attentat 20.7.1944; Verhöre durch Walter Huppenkothen, aber keine Folterungen)
  • 19.12.1944 „Von guten Mächten“ (letztes theologisches u. gestaltetes Zeugnis aus Bonhoeffers Hand, zugedacht seiner Braut Maria von Wedemeyer)
  • 7.2.1945 Verlegung ins KZ Buchenwald (Freiheitshoffnungen; ab 3.4. Transport über Regensburg nach Flossenbürg – Tötungsbeschluss durch Hitler am 5.4.
  • 9.4.1945 Hinrichtung im KZ Flossenbürg – seine letzten Worte: „Dies ist das Ende, für mich der Beginn des Lebens“

Die Bedeutung von Dietrich Bonhoeffer

Hofrat Mag. Peter Pröglhöf

wurde nachfolgenden Generationen gerade durch seine schriftlichen Zeugnisse aus der Haft deutlich. Sie sind von seinem Freund Eberhard Bethge unter dem Titel „Widerstand und Ergebung“ 1951 erstmals herausgegeben worden, seither immer wieder neu aufgelegt und erweitert, zuletzt 1998.

Es handelt sich dabei um sehr unterschiedliche Texte, Briefe an seine Familie, seine Braut, vor allem auch an Bethge selber, Berichte über die Zustände in der Haft, Gedanken und Entwürfe zu theologischen Arbeiten, und auch insgesamt 10 Gedichte. Eine kleine Auswahl aus den Gedichten möchte ich Ihnen heute Abend vorstellen.

Bonhoeffer war kein Dichter, das hat er selber betont. Aber das bildungsbürgerliche Milieu, dem er entstammte, hatte selbstverständlich auch eine Nähe zur Dichtkunst. So lässt er sich z.B. von seinem Vater eine neu erschienene Balladensammlung bestellen und ins Gefängnis schicken. Und schon gar nicht war Bonhoeffer ein Dichter von Kirchenliedtexten, auch wenn sein Gedicht „Von guten Mächten“ ein Kirchenlied geworden ist. Kirchenlieder hat Bonhoeffer für seine persönliche Andacht, als Trost und Stärkung, geschätzt. Konkret äußert er sich einmal so über die Lieder von Paul Gerhardt. Aber er selbst schreibt keine Liedtexte.

Seine Gedichte sind Versuche, Gedanken zu bündeln. Die poetische Form verschafft ihm dabei offenbar eine andere Art der Ausdrucksmöglichkeit, vielleicht eine, die als Freiheit des Geistes ein besonderes Gegengewicht gegen die Brutalität der Haft darstellt.

Wer bin ich?

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich träte aus meiner Zelle
gelassen und heiter und fest,
wie ein Gutsherr aus seinem Schloss.

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich spräche mit meinen Bewachern
frei und freundlich und klar,
als hätte ich zu gebieten.

Wer bin ich? Sie sagen mir auch,
ich trüge die Tage des Unglücks
gleichmütig, lächelnd und stolz,
wie einer, der Siegen gewohnt ist.

Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
oder bin ich nur das, was ich selber von mir weiß?
unruhig, sehnsüchtig, krank wie ein Vogel im Käfig,
ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,
hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,
dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,
zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,
umgetrieben vom Warten auf große Dinge,
ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,
müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,
matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen.

Wer bin ich? Der oder jener?
Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer?
Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler
und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?
Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer,
das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg.

Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.
Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott

Der Gehalt dieses Gedichts spiegelt sich in seiner poetischen Form. In den ersten drei Strophen gibt Bonhoeffer wieder, was andere über ihn sagen, Mitgefangene offenbar, die ihn so wahrnehmen. Diese drei Strophen umfassen jeweils 4 Zeilen, in jeder Zeile 3 betonte Silben. Dann schlägt das Versmaß um: Eine freie Form führt zu großer Steigerung, die Art, wie sich Bonhoeffer ganz im Gegensatz dazu selbst wahrnimmt, wirkt bedrängend.

Und die letzte Zeile sprengt dieses Versmaß wieder auf und macht damit deutlich, worauf alles hinausläuft: „Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!“ Das Wort „Gott“ am Ende ist die 6. betonte Silbe – Gott steht außerhalb des Versmaßes, außerhalb des Messbaren, und ist doch der, auf den alles zuläuft, der, in dessen Hände Bonhoeffer sich gibt, wer auch immer er ist in dieser unmenschlichen Lage, Gott weiß es und kennt ihn.

Wie Peter eingangs gesagt hat, ist dieses Gedicht wohl ein besonders eindrückliches Zeugnis dafür, wie Bonhoeffer Gottvertrauen verstanden hat und wie er dieses Gottvertrauen auch in der Extremsituation der Haft gelebt hat, sodass er – obwohl er sich selber als schwach erlebt hat – anderen zu Stärke und Trost werden konnte.

Christen und Heiden

Menschen gehen zu Gott in ihrer Not,
flehen um Hilfe, bitten um Glück und Brot,
um Errettung aus Krankheit, Schuld und Tod.
So tun sie alle, alle, Christen und Heiden.

Menschen gehen zu Gott in Seiner Not,
finden ihn arm, geschmäht, ohne Obdach und Brot,
sehn ihn verschlungen von Sünde, Schwachheit und Tod,
Christen stehen bei Gott in Seinen Leiden.

Gott geht zu allen Menschen in ihrer Not,
sättigt den Leib und die Seele mit Seinem Brot,
stirbt für Christen und Heiden den Kreuzestod,
und vergibt ihnen beiden.

Das zweite Gedicht, das ich Ihnen vorstellen möchte, ist meines Erachtens ein ganz zentraler Text für das Verständnis von Bonhoeffers Theologie. Wobei man vielleicht dazu sagen muss, für eine leider nicht mehr ausformulierte Theologie, denn diese neuen Gedanken Bonhoeffers finden sich m.W. in seinen früheren Werken so noch nicht, und er konnte sie nur in Grundzügen in seinen Briefen an Eberhard Bethge darlegen.

Bonhoeffer schildert in der 1. Strophe religiöses Verhalten der Menschen: „Menschen gehen zu Gott in ihrer Not“ – man erwartet sich Hilfe von Gott, bittet um alles Mögliche, ganz besonders in Situationen des Leidens, der Not. Das ist nichts spezifisch Christliches. Das ist ein ganz allgemeines religiöses Phänomen. So funktioniert eben Religion.

Die 2. Strophe stellt dem gegenüber die Eigenart des christlichen Glaubens, wie Bonhoeffer ihn versteht, heraus: Das ist zum einen ein Verständnis, das ganz davon geprägt ist, dass Gott in Christus war, und zwar im gekreuzigten Jesus von Nazareth, dort ist er ein für alle Mal bis in den Tod an die Stelle der Leidenden getreten. Das ist aber zum anderen auch ein Verständnis des christlichen Glaubens, das deshalb auch heute Gott unter den Leidenden findet, er ist dort zu finden, wo auch heute Menschen verschlungen sind von Sünden, Schwachheit und Tod. Und die Aufgabe von Christen und Christinnen ist es nicht, von Gott die Linderung des Leidens oder die Errettung aus dem Tod zu erflehen, sondern die Aufgabe von Christinnen und Christen ist es, bei Gott in seinen Leiden zu stehen.

In der Formulierung „bei Gott in Seinen Leiden stehen“ klingen natürlich Traditionen aus der Passionsgeschichte an: Einerseits die Gethsemane-Szene, in der die Jünger eben nicht mit Jesus wachen, also nicht bei ihm stehen, sondern liegen und schlafen; andererseits die Kreuzigungs-Szene nach dem Johannesevangelium mit dem „Stabat mater“, die ja beginnt mit den Worten „Es standen aber bei dem Kreuz seine Mutter usw.“. Zu denken ist auch an die 6. Strophe des Paul Gerhardt – Liedes „O Haupt voll Blut und Wunden“: „Ich will hier bei dir stehen, verachte mich doch nicht; von dir will ich nicht gehen, wenn dir dein Herze bricht“.

Das Gedicht könnte nach der 2. Strophe zu Ende sein, wenn es überschrieben wäre „Christen oder Heiden“, wenn es nur um den Gegensatz zwischen einer Allerweltsreligiosität und dem christlichen Glauben ginge. Aber es gibt noch eine 3. Strophe. Die 3. Strophe sagt: Es geht nicht darum, dass wir Gott um Hilfe und Rettung anflehen, sondern weil Gott im Gekreuzigten ein für alle Mal an die Stelle der Leidenden getreten ist, ist er immer schon da in unserer Not. Er ist an unserer Seite: „Gott geht zu allen Menschen in ihrer Not“. In der nächsten Zeile wird man an den Satz Jesu „Ich bin das Brot des Lebens“ denken können, also: Wer sich auf den Jesus einlässt, der an die Seite der Leidenden tritt, dessen Hunger nach einem erfüllten Leben wird gestillt. Ich vermute, dass Bonhoeffer nicht so sehr an das Heilige Abendmahl, an die Eucharistie, denkt. Denn eine der Hauptaussagen dieser Strophe ist ja, dass dieser Weg Gottes zu den Menschen in ihrer Not allen Menschen gilt, Christen und Heiden, allen sättigt er den Leib und die Seele mit Seinem Brot, für alle stirbt er den Kreuzestod, nicht nur für die Christen, allen vergibt er, nicht nur den Christen – während zum Heiligen Abendmahl ja doch nur die Getauften, die Christen eingeladen sind. Weit stößt Bonhoeffer hier die Tür auf: Christus ist für alle gestorben, nicht nur für die Christen, nicht nur für die Frommen, nicht nur für die, die glauben können.

Im Brief an Eberhard Bethge, dem Bonhoeffer dieses Gedicht beilegt, vom 16. Juli 1944 und im darauffolgenden Brief vom 18. Juli 1944 (also ganz kurz vor dem misslungenen Attentat auf Hitler!) entfaltet er in Grundzügen, was er in diesem Zusammenhang unter einem „religionslosen Christentum“ versteht. Ich zitiere ein paar Sätze: „Vor und mit Gott leben wir ohne Gott. Gott lässt sich aus der Welt herausdrängen ans Kreuz, Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt und gerade und nur so ist er bei uns und hilft uns. … Hier liegt der entscheidende Unterschied zu allen Religionen. Die Religiosität des Menschen weist ihn in seiner Not an die Macht Gottes in der Welt … Die Bibel weist den Menschen an die Ohnmacht und das Leiden Gottes; nur der leidende Gott kann helfen. Insofern kann man sagen, daß die beschriebene Entwicklung zur Mündigkeit der Welt, durch die mit einer falschen Gottesvorstellung aufgeräumt wird, den Blick freimacht für den Gott der Bibel, der durch seine Ohnmacht in der Welt Macht und Raum gewinnt. Hier wird wohl die ‚weltliche Interpretation‘ einzusetzen haben … Nicht der religiöse Akt macht den Christen, sondern das Teilnehmen am Leiden Gottes im weltlichen Leben.“

Diese Gedanken verlangen auch nach einer ganz neuen Interpretation der Vorstellung von der Allmacht Gottes. Gott ist sozusagen nicht die himmlische Feuerwehr, die von oben eingreift, wenn’s brennt. Sondern Gottes Allmacht ist nach Bonhoeffer die Kraft, an der Seite der Leidenden auszuharren. Und aus Bonhoeffers „Glaubenssätzen über das Walten Gottes in der Geschichte“ (von Peter vorhin als sein selbstformuliertes Glaubensbekenntnis bezeichnet) können wir gleich im ersten Abschnitt eine wichtige Neuinterpretation von Gottes Allmacht erkennen: nämlich dass „Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will.“

Aber das Böse geschieht.

Und vielleicht können wir die Behauptung wagen, dass Bonhoeffers Schicksal ein Beispiel für die Wahrheit dieses Glaubenssatzes ist. Im Bösen, das ihm durch die Mächte des Bösen angetan wurde, entstand das Gute, nicht nur der Kern einer neuen Theologie, sondern auch ein Glaubenszeugnis, das Generationen von Menschen prägt und ermutigt.

Und als Ausdruck dieses Glaubenszeugnisses kann das dritte und letzte Gedicht gelten, das ich Ihnen vorstellen möchte:

Von guten Mächten

  1. Von guten Mächten treu und still umgeben,
    behütet und getröstet wunderbar,
    so will ich diese Tage mit euch leben
    und mit euch gehen in ein neues Jahr.
  2. Noch will das alte unsre Herzen quälen,
    noch drückt uns böser Tage schwere Last.
    Ach Herr, gib unsern aufgeschreckten Seelen
    das Heil, für das du uns geschaffen hast.
  3. Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern
    des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand,
    so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern
    aus deiner guten und geliebten Hand.
  4. Doch willst du uns noch einmal Freude schenken
    an dieser Welt und ihrer Sonne Glanz,
    dann wolln wir des Vergangenen gedenken,
    und dann gehört dir unser Leben ganz.
  5. Laß warm und hell die Kerzen heute flammen,
    die du in unsre Dunkelheit gebracht,
    führ, wenn es sein kann, wieder uns zusammen.
    Wir wissen es, dein Licht scheint in der Nacht.
  6. Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet,
    so laß uns hören jenen vollen Klang
    der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet,
    all deiner Kinder hohen Lobgesang.
  7. Von guten Mächten wunderbar geborgen,
    erwarten wir getrost, was kommen mag.
    Gott ist bei uns am Abend und am Morgen
    und ganz gewiß an jedem neuen Tag.

Dieses Gedicht legt Bonhoeffer einem Brief an seine Braut Maria von Wedemeyer am 19. Dezember 1944 bei. Er schrieb „ein paar Verse, die mir in den letzten Abenden einfielen“ als „Weihnachtsgruß für Dich und die Eltern und Geschwister“. Maria von Wedemeyer fertigte daher wohl noch zu Weihnachten 1944 eine Abschrift des Gedichts für Dietrichs Eltern und den weiteren Familienkreis an. Darauf basiert eine hektografierte maschinenschriftliche Abschrift, die bis in die 1980er Jahre als authentisch galt. Sie weicht an vier Stellen vom Original ab.

Erst 1988 wurde Bonhoeffers Originalbrief öffentlich zugänglich. Angefangen mit dem Evangelischen Gesangbuch von 1993, enthalten seitdem die meisten Liederbücher die Textfassung des Autographs.

Von daher muss Eberhard Bethges Aussage, dass das Gedicht ursprünglich einem Brief an Bonhoeffers Mutter zu ihrem 70. Geburtstag beigelegt wurde, revidiert werden, die ursprüngliche Empfängerin war seine Braut, aber von dieser dann seine Familie.
Ab der 3. Zeile in der 2. Strophe („ach, Herr, gib unsern aufgeschreckten Seelen“) wird es als Gebet erkennbar, das sich an Gott wendet. In der ersten und in der letzten Strophe sind die Angeredeten seine Braut und seine Familie: „So will ich diese Tage mit euch leben“ in der ersten Strophe – mit euch, liebe Maria, liebe Mutter, lieber Vater – , mit denen er sich in der letzten Strophe zu einem „Wir“ zusammenschließt.

Es ist also schon ein sehr außergewöhnlicher Vorgang, dass ein Gedicht, das ganz in den privaten Rahmen gehört, eine so große öffentliche Wirkung entfalten konnte, auch dadurch, dass es als Lied vertont wurde und sehr viel gesungen wird, wobei es eine große Zahl von Melodien gibt. Laut Werkdatenbank der GEMA mit Stand 2017 inzwischen von mehr als 70 Komponisten.
Bonhoeffer selbst hatte dies sicher nicht im Sinn. Das zeigt sich schon darin, dass das Versmaß, eine Strophe zu vier fünfhebigen Versen, in der gesamten damals bekannten deutschen Kirchenlieddichtung nicht vorkommt. Bonhoeffer hatte also mit Sicherheit auch keine Melodie im Ohr, auf die hin er dieses Gedicht geschrieben hat. Nein, ursprünglicher Empfänger dieses Gedichtes ist seine Braut und seine Familie.

Damit nähern wir uns auch schon der Frage, wer denn eigentlich die „guten Mächte“ sind, die in diesem Gedicht angesprochen werden. Dazu gibt es eine interessante Passage aus dem Brief vom 19. Dezember 1944 an seine Braut:

„Meine liebste Maria!

Ich bin so froh, dass ich dir zu Weihnachten schreiben kann, und durch Dich auch die Eltern und Geschwister grüßen und Euch danken kann. Es werden sehr stille Tage in unsern Häusern sein. Aber ich habe immer wieder die Erfahrung gemacht, je stiller es um mich herum geworden ist, desto deutlicher habe ich die Verbindung mit Euch gespürt. Es ist, als ob die Seele in der Einsamkeit Organe ausbildet, die wir im Alltag kaum kennen. So habe ich mich noch keinen Augenblick allein und verlassen gefühlt. Du und die Eltern, Ihr alle, die Freunde und Schüler im Feld, Ihr seid mir immer ganz gegenwärtig. Eure Gebete und guten Gedanken, Bibelworte, längst vergangene Gespräche, Musikstücke, Bücher bekommen Leben und Wirklichkeit wie nie zuvor. Es ist ein großes unsichtbares Reich, in dem man lebt und an dessen Realität man keinen Zweifel hat. Wenn es im alten Kinderlied von den Engeln heißt: ‚zweie, die mich decken, zweie, die mich wecken‘, so ist diese Bewahrung am Abend und am Morgen durch gute unsichtbare Mächte etwas, was wir Erwachsenen heute nicht weniger brauchen als die Kinder. Du darfst also nicht denken, ich sei unglücklich. Was heißt denn glücklich und unglücklich? Es hängt ja so wenig von den Umständen ab, sondern eigentlich nur von dem, was im Menschen vorgeht. Ich bin jeden Tag froh, daß ich Dich, Euch habe und das macht mich glücklich froh.

Bonhoeffer gibt also hier eine moderne Interpretation der mythologischen Vorstellung von Engeln: All das, was ihn mit den Seinen verbindet, wird zu einem unsichtbaren Netz, das ihn trägt, und in dem sich Gottes Güte zeigt, vielleicht so wie in dem Wort aus Psalm 139: „Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir.“

Der Schluss der ersten und der Beginn der zweiten Strophe beziehen sich auf den Jahreswechsel 1944/45. Das „alte“ bezieht sich auf das „alte Jahr“ und muss daher klein geschrieben werden. In allen Vertonungen, in denen Strophen umgestellt oder weggelassen wurden, sodass die zweite nicht an die erste Strophe anschließt, geht dieser Zusammenhang verloren und wird „das Alte“ großgeschrieben und damit verallgemeinert.

Dieses treu und still Umgebensein von guten Mächten täuscht aber nicht über den Ernst der Lage hinweg, dessen sich Bonhoeffer sehr bewusst ist. Und so finden wir in den folgenden Strophen mehrere Anspielungen auf die Szene von Jesus in Gethsemane, der sich nach der Überlieferung des Neuen Testaments auch dessen bewusst war, dass er ums Leben gebracht werden wird:
In der 3. Strophe erinnert das Zitat vom „schweren Kelch, den bittern des Leids“ an das Gebet Jesu in Gethsemane „Abba, Vater, alles ist dir möglich; nimm diesen Kelch von mir; doch nicht, was ich will, sondern was du willst“ (Mk 14,36 parr). Und in der 5. Strophe: „Führ, wenn es sein kann, wieder uns zusammen“ erinnert an die Fassung dieses Verses im Mt: „Mein Vater, ist’s möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber“ (Mt 26,39).

Freilich ist die Aussage, den Kelch des Leids „dankbar ohne Zittern“ aus der guten und geliebten Hand Gottes zu nehmen, einer der Gründe, warum diese Strophe beim Singen oft weggelassen wird. Kann das von irgendjemandem verlangt werden, wo doch sogar Jesus selbst Angst hatte und wohl gezittert hat? Nein, fordern kann man das nicht. Aber man kann mit Bonhoeffers Worten darum bitten, dass einem diese Glaubensgewissheit geschenkt wird und man so – wie er in seinem Gedicht „Christen und Heiden“ sagt – bei Gott steht in Seinen Leiden. Deshalb sollten wir diese Strophe singen.

Die folgenden Strophen nehmen die Atmosphäre von Weihnachten und Jahreswechsel auf. Die 4. mit ihrem „Doch“ zu Beginn lässt Hoffnung auf eine glückliche Wende aufkommen. Die 5. lässt das Hoffnungslicht auf ein wieder Vereintsein fallen und die 6. führt zurück zum Thema der guten Mächte: In der Stille wird der Lobgesang all derer hörbar, die uns schon im Glauben vorausgegangen sind und die uns mit all den guten Mächten, die ihr tragendes Netz ausspannen, Gottes Güte bezeugen.
So außergewöhnlich der Weg dieses Gedichtes ist, zeigt er doch einen wesentlichen Grundzug des Glaubens: Wir lernen ihn kennen am Beispiel konkreter Menschen. Vielleicht darf man sogar sagen: Wir lernen nicht nur den Glauben kennen, sondern wir lernen zu glauben am Beispiel konkreter Menschen. Dietrich Bonhoeffer ist so ein Beispiel. So wurde er über seinen Tod hinaus einer, an dem Lebenszeugnis und Liebesbeweis, wie es der Titel der heurigen ökumenischen Fastenaktion formuliert, sichtbar werden.

Will ich abends schlafen gehn
vierzehn Engel um mich stehn
zwei zu meiner Rechten
zwei zu meiner Linken
zwei zu meinen Häupten
zwei zu meinen Füßen
zwei, die mich decken
zwei, die mich wecken
zwei, die mich führen
ins himmlische Paradies
Amen