Physis und Psyche – wie stehen sie zueinander?

[05.10.2022]

Hartmut Schwaiger

Im Griechischen liegen die Begriffe „Körper“ und „Geist“ nahe beisammen: Die „Psyche“ ist uns allen ein alltäglicher Begriff, die „Physis“ als Begriff des Körperlichen nicht so sehr. Geläufiger sind uns die Adjektive „psychisch“ und „physisch“, die einander lautlich noch mehr ähneln und immer wieder für Verwechslungen sorgen. Die griechische Sprache kann also ein Anlass sein, darüber nachzudenken, ob „Psyche“ und „Physis“ einander nicht näher sind, als wir es oft vermuten. Das Thema dieses Gemeindebriefes packt das Thema zunächst von der anderen Seite an: „Lass dich berühren“. Das ist eine Aussage, die ebenso geistig wie körperlich, also psychisch wie physisch verstanden werden kann. Im ursprünglichen Sinne geht das Wort „berühren“ eher vom Körperlichen aus und von dort findet es dann seinen Weg zum Geistigen. Oft finden wir dieses Phänomen in der Sprache:

  • „Lass den Kopf nicht hängen“
  • „Kopf hoch, Brust heraus“
  • viel „schultern“ zu müssen
  • ein „aufrechter“ Mensch zu sein

… all das sind sprachliche Hinweise darauf, dass wir häufig vom Körperlichen auf das Geistige schließen. Und tatsächlich hat die moderne Wissenschaft herausgefunden, dass es eine sehr enge Verbindung zwischen Körper und Geist gibt, dass also die altbekannten Redewendungen viel Wahrheit enthalten.

Wer sich beispielsweise mit dem Thema „Angst“ beschäftigt, weiß sicherlich auch, dass Menschen, die Angst haben, sich verspannen, dass die Muskulatur extrem hohe Spannung aufbaut. Man erklärt das üblicherweise damit, dass man durch die Angst in einen Alarmmodus versetzt wird und der Körper in der Folge erwartet, aktiv werden zu müssen. Das lässt ihn seine Muskulatur anspannen. Bei anhaltender Angst steigt diese Muskelanspannung immer weiter und hält dann hartnäckig an.

Der Psychologe Jacobson ging von dieser Erkenntnis aus und zog daraus den Umkehrschluss: Gelingt es mir, meine Muskulatur zu entspannen, kann ich damit auch die Angst bekämpfen. Er nannte diese Methode die „progressive Muskelrelaxation“ und entwickelte damit eine mittlerweile gängige, erfolgreiche Methode, Angst zu reduzieren, indem man bei der Muskulatur ansetzt. Mit anderen Worten: Die Physis nimmt Einfluss auf die Psyche, der Körper hilft dem Geist, seine Angst in den Griff zu bekommen.

Im Sport gibt es die Methode des Embodiments, die eigentlich nichts anderes ist als das, was uns die alten Redewendungen sagen:
Indem man seinen Körper verändert, verändert man seinen Geist. Wenn man sich körperlich aufrichtet, sich nicht hängen lässt, wird nach einiger Zeit auch der Geist aufgerichtet.

Wenn man also von negativen Gedanken und Gefühlen belastet wird und dagegen arbeitet, indem man das sprichwörtliche „Kopf hoch, Brust heraus“ tatsächlich körperlich ausführt, dann stellt man fest, dass damit oft auch die Gedanken positiver werden.

Natürlich funktioniert das nicht immer und soll auch nicht dazu führen, dass man alles Belastende durch körperliche Übungen nur verdrängt. Aber es tut doch gut zu wissen, dass vieles möglich ist und dass unser Körper uns helfen kann.

Die östlichen Traditionen machen etwas ganz Ähnliches mit der Atmung. Auch sie wirkt über den Körper auf den Geist.
Wenn man sich all diese Erkenntnisse vor Augen führt, dann wird auch das Thema „Lass dich berühren“ durchaus zu einem vermehrt körperli- chen: Die Bibel – speziell das Neue Testament und Jesus – geben darauf schöne Hinweise. Man denke nur daran, wie oft Jesus mit Berührung wirkt. Wer die Bibel aufmerksam liest, wird feststellen, dass Jesus häufig den Geist über den Körper erreicht.

Lassen wir uns davon berühren…lassen wir uns berühren. Physisch wie psychisch.

Hartmut Schwaiger