Mitgefühl mit Fremden?

[06.07.2021]

Schwindet in unserer Gesellschaft das Mitgefühl? Die eigene Familie und vielleicht noch Freunde bekommen es. Nur dann ist schon eine Grenze erreicht, die viele nicht mehr übertreten wollen. Dieser Schwund verstärkt sich rapide, wenn es um Menschen geht, die einem fremd sind, die aus einer völlig anderen Kultur kommen. Fremdes macht Angst. Auch ich gehe nicht sofort auf Fremde zu. Letztes Jahr traf mich die Aussage eines Politikers im ersten Lockdown. „Österreich habe die Grenzen bezüglich Covid zugemacht und werde sie auf keinen Fall für Flüchtlinge öffnen.“ Das schlug ein. Muss ich das so hinnehmen oder kann ich etwas tun? Endergebnis waren 7 Wochen über den Jahreswechsel im Camp Mavrovouni auf Lesbos. Nachdem Moria angezündet wurde und somit ca. 14 000 Flüchtlinge über Nacht auf der Straße landeten, wurde es in wenigen Tagen aufgebaut. Wie durch ein Wunder starb niemand bei dem Brand!

Mein erster Besuch im Camp fand an einem sonnigen Tag mit blauem Himmel statt. Viele Menschen waren geschäftig unterwegs, Kinder spielten fröhlich mit ihren Murmeln. Frauen wuschen ihre Wäsche an den Waschplätzen und ich hörte unverständliche Worte. Die Situation hatte etwas Friedliches. Ich war in einer riesigen Zeltstadt gelandet mit damals ca. 7000 Bewohnern im Alter von Neugeborenen bis über 70-Jährigen. Als Mitarbeiterin im Social Care Team von Euro Relief (www.eurorelief.net) besuchte ich Leute in ihren Zelten, die gröbere psychische Probleme hatten. Ehrlich, mein Respekt vor den Bewohnern wuchs mit jeder Begegnung. Wer von uns will in einem Zelt leben, wenn es draußen null Grad hat und der Wind den Regen dir ins Gesicht peitscht und es im Zelt keine Heizungsmöglichkeit gibt? Für eine warme Dusche müsste man das Zelt verlassen und ein Stück gehen (bei dem Wetter laufen). Ich freute mich öfters auf die heiße Dusche in meinem Apartment.

Alle Bewohner haben mindestens ein Trauma erlebt. Entweder in ihrem Herkunftsland oder auf der Flucht oder im Camp. Sie reagieren jedoch unterschiedlich darauf. Eine Somalierin, die zu Hause vergewaltigt wurde und schwerst mit Messern verletzt wurde, getraute sich zum Beispiel nicht allein aus dem Zelt. Auf Grund der körperlichen Behinderung konnte sie sehr schlecht gehen und war inkontinent. Da bewegte mich, wie die Mitbewohnerinnen sich um sie kümmerten. Sie organisierten einen Rollstuhl, als die Frau zum Arzt musste und schoben sie auf dem steinigen Weg durchs Camp bis zum Arzt. Außerdem begleiteten sie sie immer zur Toilette und versorgten sie mit Essen. Für alle war völlig klar, wir lassen sie nicht allein. Dabei hatte jede ihre Geschichte. Eine von ihnen war mit ihrer Tante geflüchtet. In der Türkei wurden sie über einen Berg getrieben und die Tante war nicht so schnell. Die Nichte durfte nicht zu ihr zurücklaufen. Seitdem hat sie die Tante nicht mehr gesehen. Sie hat keine Ahnung, ob die Tante noch lebt.

Junge Mütter kamen zu uns, weil ihre Männer sie geschlagen hatten. Die Männer verstanden nicht, warum wir ihre Frauen in ein anderes Zelt brachten. In vielen Kulturen ist es „normal“, dass man seine Frau schlägt, wenn man zornig oder hilflos ist. Durch mein Alter konnte ich mit diesen Männern reden, ohne dass es für sie ein Gesichtsverlust gewesen wäre. Dabei hörte ich wieder Geschichten von Angst, Hoffnungslosigkeit und vor allem Hilflosigkeit. Sie sollten doch ihre Familien ernähren und für sie sorgen. Aber wie?

Es ist leicht, über Hoffnung zu reden, wenn man am Abend das Camp verlässt. Und doch erlebte ich häufig, dass die Ermutigung und die Begegnung mit Respekt und Liebe und der Versuch ihnen im Kleinen zu helfen, viel für die Menschen bedeutete. Auch wenn wir sie nicht aus dem Camp bringen können. In dieser Spannung sind alle Mitarbeiter, praktisch zu helfen und doch das Kernproblem (das Camp zu verlassen) nicht lösen zu können. Aber sie bringen den Geflüchteten Gottes Liebe ganz praktisch nahe und stehen ihnen in der schwierigen Situation bei.

Ich wünsche mir sehr, dass wir in der reichen EU uns dieser Verantwortung stellen und konstruktive Lösungen angehen. Es leben sehr wertvolle und liebenswürdige Menschen in diesen Camps!

Margit Eichhorn
Psychotherapeutin, Mitarbeiterin bei „Campus für Christus“