Wer hat mich berührt?

[22.09.2022]

Pfarrer Jens-Daniel Mauer

Obwohl die Menschenmenge ihn fast erdrückt und er eigentlich mit einem wichtigen Mann der Stadt unterwegs ist, nimmt Jesus zwischen all den zufälligen und neugierigen Berührungen eine wahr, die besonders ist. Er spürt: diese Person braucht seine Zuwendung. Eine Frau, die seit 12 Jahren Blutungen hat und eigentlich gar nicht zwischen den Menschen stehen darf, weil durch sie alle anderen auch „unrein“ werden. Über längere Zeit krank, galt sie doch als von Gott bestraft und vergessen. Aber auch sie hat von Jesus gehört und schöpft noch einmal neue Hoffnung. Ihr gesamtes Geld erfolglos für Behandlungen ausgegeben, setzt sie ihr Vertrauen darauf, dass er auch ihr helfen kann. Sie traut sich, ihn verstohlen von hinten am Gewand zu berühren. Es soll wie eine zufällige Berührung aus- sehen, sie möchte kein Aufsehen erregen. Sie berührt nur sein Gewand, bekommt nur den Saum seines Mantels zu fassen. Aber schon diese Berührung reicht aus – im selben Moment hört die Blutung auf.

„Es hat mich jemand berührt; denn ich habe gespürt, dass eine Kraft von mir ausgegangen ist.“ (Lukas 8,46) Jesus will wissen, wer das war und wartet geduldig, ob die Frau sich zu erkennen gibt. Er will sie nicht bloßstellen, sondern ermöglichen, dass auch ihre inneren und gesellschaftlichen Verletzungen heilen. Vor Angst zitternd, weil sie erwartet, von ihm und den Umstehenden verurteilt zu werden, outet sich die Frau. Durch ihr öffentliches Bekenntnis macht Jesus allen deutlich, dass die Frau nicht mehr krank und damit auch nicht mehr unrein ist, sondern am normalen Leben teilnehmen kann. Darüber hinaus adelt er ihr Vertrauen! (gesamte Erzählung in Lukas 8,40-48)

Die Evangelisten, Lukas im Besonderen, erzählen mehrere derartige Geschichten. Kranke, Gelähmte und Blinde „kamen“ zu ihm und wollten, dass er ihnen heilend die Hände auflegt (Lukas 4,40). Von der Berührung mit Jesus muss eine außergewöhnliche – eine göttliche – Kraft ausgegangen sein (Lukas 6,19). Er scheute dies keineswegs: Bei der Segnung der Kinder (Markus I0,l3ff) herzte, also umarmte sie Jesus, bei der Fußwaschung seiner Jünger (Johannes I3,4ff) betreibt er Körperpflege an anderen und er selbst lässt sich von Kopf bis Fuß salben (Matthäus 26,6ff).

Auf dieser Grundlage ist es doch sehr erstaunlich, dass dem Christentum nachgesagt wird, es sei „leibfeindlich“? Der Kirchenlehrer Augustinus hat dazu entscheidend beigetragen, indem er den Körper als „Einfallstor der Sünde“ bezeichnete und damit die kirchliche Lehre seit dem 4. Jahrhundert wesentlich prägte. In der Folge hat das viel Leiden verursacht…

Selbstverständlich müssen wir alle auf ein angemessenes Verhältnis von Distanz und Nähe achten – entsprechend dem jeweiligen Beziehungsgefüge. Es ist wichtig wahrzunehmen, wenn mein Gegenüber gerade keine Berührung von mir möchte und auch mich selbst ernst zu nehmen, wenn mir eine Berührung unangenehm ist. Aus dieser Perspektive sollten die scheinbar leibfeindlichen Äußerungen der Bibel gedeutet werden!

Viele Menschen scheuen Berührung – aus den verschiedensten Gründen: Vielleicht weil sie verletzt wurden, weil sie Angst um sich haben, weil sie auf Abstand hin erzogen wurden oder selbst nie gute Berührung erfahren haben. Und doch sehnen wir uns nach wohltuender Berührung, von Annahme und Zuwendung nicht nur zu hören, sondern sie spüren zu können. Gott hat uns so geschaffen und uns die kostbare Möglichkeit geschenkt, uns gegenseitig zu berühren.

Wir sind nicht Jesus und haben keine heilenden Hände. Und doch glaube ich, dass auch zwischenmenschliche Berührungen tatsächlich etwas Heilsames haben können – wenn wir achtsam miteinander umgehen. Von Berührungen geht eine wechselseitige Kraft aus. Ob uns darin nicht manchmal Gott selbst innerlich berühren möchte? Insbesondere wenn wir uns einander spürbar segnen?

Pfarrer Jens-Daniel Mauer