Biologie der Berührung

[26.09.2022]

Ursula Brandweiner

Das Fühlen ist das Stiefkind unter unseren Sinnen. Verglichen mit Sehen, Hören, Riechen oder Schmecken gilt es als „niedere Wahrnehmung“. Dabei ist die Haut mit bis zu zwei Quadratmetern Oberfläche und bis zu zehn Kilogramm Gewicht unser größtes Sinnesorgan. Diese besteht aus drei Schichten, in denen sich mehrere Millionen Sinneszellen, die Rezeptoren, befinden. Sie nehmen Reize von außen auf und leiten sie als elektrische Impulse an das Rückenmark weiter, das wiederum dem Gehirn meldet, was „draußen“ passiert. Allerdings befinden sich nicht an jeder Körperstelle gleich viele Rezeptoren.

Mach doch einen Versuch: Stich dich mit zwei spitzen Bleistiften gleichzeitig in die Fingerkuppe. Du wirst schon bei sehr geringen Abständen die zwei Einstichstellen unterscheiden können. Wiederholst du das Gleiche am Rücken, stellt du fest, dass du erst dann beide Stiche wahrnimmst, wenn diese mehrere Zentimeter auseinander liegen.

Damit das Gehirn zwischen den Informationen über Temperatur, Druck, Vibration, Berührung und Schmerz unterscheiden und eine passende Reaktion veranlassen kann, besitzt der Körper verschiedene spezialisierte Rezeptoren. Diese Rezeptoren reagieren unterschiedlich lang. Kurze Reaktionen haben Rezeptoren für Berührung und Vibration. Daher können wir beim Tasten schnell kleine Unterschiede wahrnehmen. Druck- und Schmerzrezeptoren reagieren manchmal länger anhaltend.

Unser Gehirn ist in der Lage, alltägliche, „unwichtige“ Reize, wie die Berührung der Kleidung auf der Haut oder den Druck unserer Füße auf dem Boden aus unserem Bewusstsein auszublenden, sodass wir uns ganz auf das Steinchen im Schuh oder die Stecknadel im Hemdkragen konzentrieren können.

Als Reaktion auf Sinnesreize schüttet unser Gehirn wichtige Botenstoffe aus. Bei anhaltenden Schmerzen steigt die Produktion von Stresshormonen, während angenehme Berührungen und Umarmungen die Ausschüttung von Wohlfühl- und Bindungshormonen, wie z.B. Oxytocin, auslösen. Diese können das Wohlbefinden steigern, den Blutdruck senken und die Bindungsfähigkeit unterstützen. Vor allem bei Babys sind Berührungen sehr wichtig für die Entwicklung des Gehirns und die Ausschüttung von Wachstumshormonen. Das völlige Fehlen liebevoller Berührungen dagegen verzögert nicht nur die Entwicklung und verursacht seelische Schäden, sondern kann sogar zum Tode führen.

Ein besonders bemerkenswertes Beispiel für die Wichtigkeit von Berührungen bei Babys ist die „Känguru-Methode“ (so genannt, weil sie der Art ähnelt, wie Kängurus ihre Jungen tragen). Diese wurde erstmals bei Frühgeborenen in den 1970er Jahren in Bogota, Kolumbien, angewandt, um den hohen Infektions- und Sterblichkeitsraten in Krankenhäusern aufgrund von Überfüllung und Knappheit an Brutkästen zu begegnen. Die Mütter wurden ermutigt, ihre Babys 24 Stunden Haut an Haut auf dem Brustkorb gebunden zu tragen. Erkrankungen und Sterblichkeit bei den Säuglingen gingen rasch zurück. Seit dieser Zeit konnte durch viele Untersuchungen gezeigt werden, dass sich Sterblichkeit, Infektionen, Schwere von Infektionen sowie Dauer des Klinikaufenthalts durch die Känguru-Methode verringern und sich gleichzeitig die Mutter-Kind-Bindung, das Stillen und die Zufriedenheit der Mutter verbessert hat.