Das Teppichverbot

[2017-04-04]

Vor langer, langer Zeit gab es einmal ein Land, in dem herrschte ein junger König. Dieser junge König hatte eine wunderbare, bildhübsche und blitzgescheite Königin, die ihm half, sein Land umsichtig und weise zu regieren. Eines Tages aber geschah ein fürchterliches Unglück. Der König hatte, um seinen Palast zu verschönern, auf allen Treppen herrliche Teppiche auslegen lassen. Gerade als aber der letzte Teppich verlegt worden war, trat die Königin aus ihrem Schlafgemach, um in den Thronsaal zu ihrem Gatten zu gehen. Dabei beachtete sie die neuen Teppiche nicht, stolperte am Treppenrand, stürzte die ganze lange Treppe hinunter und brach sich das Genick.

Was für ein Wehklagen erhob sich da im ganzen Königreich! Nicht nur der arme König weinte bitterlich, sondern auch das ganze Volk, denn die Königin war überaus beliebt gewesen. Und so geschah es, dass der König drei Tage nach der Beerdigung seiner geliebten Frau vor allem Volk ein neues Gesetz verkündete, das das Auslegen von Teppichen in seinem gesamten Reich verbot und unter schwere Strafe stellte. Der König setzte sogar ein eigenes Amt ein, das über die Einhaltung dieses Gesetzes wachen sollte.

So vergingen die Jahre.

Der König lebte in stiller Trauer, das Volk gewöhnte sich daran, dass es eben nun in keinem Haus mehr Teppiche geben durfte und das Teppichamt wachte darüber, dass auch wirklich alle Bürger des Landes sich an dieses Gesetz hielten.
Freilich fanden viele es schade, dass es dieses strenge Gesetz gab, denn die Böden waren seither – vor allem im Winter – viel kälter. Und die Häuser waren nicht mehr so gemütlich wie früher, denn die Wärme, die Weichheit und die bunten Farben der Teppiche fehlten. Aber so war es eben und nach einigen Jahren schien es allen so, als wäre es schon immer so gewesen.

Eines Tages kam ein Fremder in die Stadt, ein geheimnisvoller Fremder, der von weit her zu kommen schien und er kam mit einem Wagen, der fest verschlossen war, sodass niemand sehen konnte, was sich in diesem Wagen befand. Er sagte nur, darin sei Ware aus dem Morgenland, die er dem König anbieten wolle. Der König, der neugierig wurde, als er die Kunde hörte, ließ den Mann zu sich bringen. Wie erschrak er aber, als er die Ware sah! Der Mann war nämlich der berühmteste Teppichknüpfer des Morgenlandes und alle seine Ware waren… Teppiche! Sofort wollte der König den Mann wieder fortschicken, doch da sprach dieser: „Hochgeehrter König! Ich kenne euer Schicksal und doch bin ich hier her gekommen, denn ich möchte euch einen Teppich zum Geschenk machen, den ich, als ich von eurem Unglück hörte, für euch gemacht habe.“ Und er zog einen Teppich hervor, der war aus feinster Wolle gefertigt. Und als er ihn dem König zeigte, da wurde dieser ganz blass, denn in diesen Teppich eingewoben war das Antlitz der verstorbenen Königin. Und es war so schön, dass der König seinen Blick nicht mehr abwenden konnte und sich ganz in dieses Bildnis verlor.

In stiller Trauer saß er da, aber auch mit einem Gefühl im Herzen, als sei seine Frau wieder zu ihm zurückgekehrt.

Nach kurzer Zeit trat sein Minister zu ihm heran und üsterte ihm zu: „Majestät, das ist ein Teppich, ein verbotener Teppich. Denkt an Euer Gesetz! Wir müssen sofort das Teppichamt rufen!“

Da blickte der König auf, als erwache er aus einem langen Traum. Er blickte den Minister an, dann den Fremden und schließlich wieder den Teppich. Lange überlegte er und sagte dann: „Nein. Wenn es solche Teppiche geben kann, dann muss mein Gesetz falsch sein.“

Und so kam es, dass der König noch am selben Tag sein altes Gesetz änderte. Von diesem Tag an waren Teppiche wieder erlaubt, worüber sich viele Bürger freuten, da ihre Häuser nun wieder bunter, gemütlicher und im Winter wärmer wurden. Das Teppichamt aber blieb erhalten. Allerdings bekam es eine neue Aufgabe, nämlich die, dass im ganzen Land die Kunst des Teppichknüpfens nach der Art des Fremden gelehrt wurde.

Und wenn du heute bei einem Händler einen wirklich kunstvoll geknüpften Teppich siehst, dann stammt er sicher aus dem Lande des traurigen Königs.

Hartmut Schwaiger