Karfreitagsgedanken

[2020-04-09]

Ihr Lieben,

den Abendgottesdienst am heurigen Karfreitag hätte ich leiten sollen, und geplant war dabei eine Aufführung der Johannespassion von Heinrich Schütz durch BachWerkVokal unter der Leitung von Diözesankantor Gordon Safari. Dies kann nun leider nicht stattfinden. Ich schicke euch statt dessen eine Abschrift meiner Karfreitagstexte vom letzten Jahr: Da lag der Karfreitag am 19. April und wir haben ein neunzehn.neunzehn gestaltet mit Joseph Haydn, „Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze“.

Die vier Evangelien bringen ja sehr unterschiedliche letzte Worte, die Jesus am Kreuz gesprochen haben soll, und die Tradition brachte diese unterschiedlichen Worte in eine bestimmte Reihenfolge und stellte sie in dieser 7er-Zahl zusammen. Joseph Haydn hat den Auftrag zu dieser Komposition von einem Priester aus der spanischen Stadt Cadiz bekommen und sie wurde dort vermutlich am Karfreitag des Jahres 1787 uraufgeführt. Damals wurden vom Bischof diese Worte eines nach dem anderen gelesen, mit einigen Gedanken kommentiert und anschließend erklang der jeweilige musikalische Satz über dieses Kreuzeswort.

So haben wir das auch letztes Jahr bei neunzehn.neunzehn am Karfreitag gehalten. Ich hänge euch meine Gedanken dazu in die Anlage. Vielleicht tut es uns gut, diese Worte Jesu am heurigen Karfreitag einmal „coronafrei“ zu meditieren, denn von der Krankheit war vor einem Jahr noch keine Rede. Und doch scheint mir, dass das, was ich voriges Jahr gesagt habe, auch für die heurigen Verhältnisse gilt.

So grüße ich euch alle mit dem Wunsch, dass auch dieser Karfreitag uns stärken möge in der Gewissheit, dass es seit dem Tod Jesu – so ferne Gott vielleicht auch scheinen mag – keinen Ort der Gottesferne mehr gibt.

Euer Peter Pröglhöf

Tel. +43 699/18877503 oder peter.proeglhoef@evang.at

Die nachstehenden Gedanken können Sie auch als pdf-File herunterladen.

 

„Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ (Lk 23,34)

Um die dritte Stunde, also 9 Uhr morgens, hatte das Grauen begonnen. Da, so erzählt Markus, wurde Jesus gekreuzigt.

„Ich will hier bei dir stehen, verachte mich doch nicht;
Von dir will ich nicht gehen, wenn dir dein Herze bricht“
dichtet Paul Gerhardt.

Stehenbleiben.
Hinschauen.
Nicht die Augen zumachen vor dem Grauen, das sich auch heute tausendfach auf der Welt abspielt.

Deshalb brauchen wir den Karfreitag als Feiertag: Wir beginnen vormittags mit der schweren Übung, hinzuschauen. Vormittags feiern wir deshalb den Hauptgottesdienst am Karfreitag – nicht angehängt, nebenbei, nicht wenn alles ach so Wichtige eines Arbeits- und Einkaufstages erledigt ist.

Und was wir, wenn wir beim Gekreuzigten stehen bleiben, sehen und hören, erzählt Lukas, ist mehr als nur das Grauen: Da durchbricht einer, dem schlimmste Gewalt angetan wird, die Spirale von Hass und Gewalt:

„Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“.

Da leuchtet mitten im Grauen auf, was Mensch-Sein bedeuten kann: Selbst dort, wo es scheinbar unmöglich ist, Vergebung zu wagen. Nur so kann Gewalt beendet werden, nur so erweist sich, dass die Liebe stärker ist.

„Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein.“ (Lk 23,43)

Der, zu dem Jesus das sagt, ist einer der beiden Verbrecher, die mit ihm gekreuzigt werden. Der andere hatte ihn höhnisch aufgefordert, sich selbst und ihnen zu helfen, wenn er der Christus sei.

Doch jener widerspricht dem Lästerer, zeigt Einsicht in das Unrecht seiner Taten und bittet Jesus: „Gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst!“ Und Jesus antwortet: „Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein.“

Ein Verbrecher im Paradies. Lukas erzählt nichts davon, ob er irgendeine Wiedergutmachung geleistet hat. Auch erfahren wir nicht, ob er gläubig war oder seine Vorstellungen von Gott im Einklang mit der Bibel gewesen wären.

Eigentlich ist diese Szene eine Provokation für alle Rechtschaffenen und Rechtgläubigen: Unsereins, so könnten sie sagen, strengt sich ein ganzes Leben lang an. Und dann sitzt so einer mit uns im Paradies.

Doch nur so bleibt Jesus seinem Vater treu. Nur so, weil Jesus seine Botschaft bis zuletzt durchgehalten hat, können wir uns darauf verlassen, dass Gottes Herz so weit ist, dass es unsere engen Vorstellungen von drinnen und draußen immer übersteigt.

„Frau, siehe das ist deine Mutter.“ (Joh 19,27)

Mit dem nächsten Wort Jesu am Kreuz wechseln wir in das Johannesevangelium. Nur dort wird von einem Jünger erzählt, den Jesus liebte. Die spätere Legende hat ihn mit Johannes gleichgesetzt. Im Evangelium selbst erfahren wir nicht, wer er ist und was das für eine Art von Liebesbeziehung ist, die Jesus und dieser Jünger haben.

Nur er (dieser Jünger), die Mutter Jesu, deren Schwester, Maria die Frau des Klopas und Maria Magdalena stehen im Johannesevangelium am Kreuz. Und dann erzählt Johannes: „Als nun Jesus seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er lieb hatte, spricht er zu seiner Mutter: Frau, siehe, das ist dein Sohn! Danach spricht er zu dem Jünger: Siehe, das ist deine Mutter! Und von der Stunde an nahm sie der Jünger zu sich.“

Diese berührende Szene zeigt uns den sterbenden Jesus, den Gottessohn, den Johannes ja eigentlich immer ins Zentrum seiner Darstellung rückt, von seiner zutiefst menschlichen Seite: Er möchte, dass für seine Liebsten gesorgt ist. So fällt es wohl jedem Menschen leichter zu gehen: Wenn er weiß, dass für seine Liebsten gesorgt ist.

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mk 15,34 und Mt 27,46)

Nur Markus und Matthäus berichten von diesem Wort Jesu am Kreuz, und nach ihrer Darstellung war es auch das einzige.

Markus zitiert es auf Aramäisch, der Muttersprache Jesu: Eloi, Eloi, lema sabachthani – und sagt damit: Dieser Schrei kam aus dem tiefsten menschlichen Herzen Jesu, in seiner Sprache, die ihm von Kind an vertraut war, in der er mit seinem himmlischen Vater gesprochen und den Menschen von ihm erzählt hat. Von ihm verlassen: ausgeliefert der Schmach, den Schmerzen. Nun scheint doch der Tod das letzte Wort zu haben.

„Eli, Eli, lama sabachthani“ – Matthäus hingegen zitiert diesen Schrei auf Hebräisch, der Gottesdienstsprache des Judentums, in dem Jesus aufgewachsen ist und die Überlieferungen seines Glaubens kennen gelernt hat. Und Matthäus sagt damit, woher diese Worte „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“ stammen: Sie sind der Anfang des 22. Psalms der Hebräischen Bibel, des heiligen Buches des Judentums. In dieses Gebet eines Gottverlassenen aus der Geschichte seines Volkes kann Jesus seine eigene Gottverlassenheit hineinlegen.

Er wird dieses alte Gebet auswendig gekonnt haben. Und so hat ihn vielleicht auch getröstet, dass in diesem alten Gebet beides da ist:
die tiefe Gottverlassenheit
und das noch tiefere Vertrauen, dass Gott ihn nicht fallen lässt.

Was wird uns einst trösten, wenn niemand mehr die Überlieferungen unseres Glaubens kennt? Was wird uns halten in unserer Gottverlassenheit, wenn der Karfreitag nur noch der wichtigste Einkaufstag im Jahr ist?

„Mich dürstet.“ (Joh 19,28)

Mit diesem Wort kehren wir zurück in die Darstellung des Johannesevangeliums. Auch wenn dieses im Unterschied zu den anderen keine Zeitangaben macht, kann man davon ausgehen, dass auch Johannes sich vorstellt, dass Jesus nun schon seit Stunden am Kreuz hängt. „Durst“ ist daher wohl zunächst einmal einfach Teil der Qualen, denen er ausgesetzt ist.

Johannes erzählt aber, dass Jesus dieses Wort gesagt habe, damit die Schrift erfüllt würde; und einige füllen aus einem Gefäß voll Essig einen Schwamm, legen den um einen Ysop (also möglicherweise irgendein Rohr von einer Pflanze) und halten ihm den an den Mund.

Wieso steht da ein Gefäß mit Essig herum, könnte man fragen. Und wo kommen da mitten am Hinrichtungsplatz außerhalb der Stadt ein Schwamm und ein Ysoprohr her? War das üblich, das den Verurteilten zu reichen?

Wir wissen darüber nichts. Und daher ist die Frage viel spannender, warum Johannes betont, dass mit dieser Szene die Schrift erfüllt werde. Er denkt sicher an Psalm 69, wo einer, der geschmäht wird und niemanden findet, der Mitleid mit ihm hat, keinen der ihn tröstet, sagt: „Sie geben mir Galle zu essen und Essig zu trinken für meinen Durst.“

In früheren Zeiten hat man solche alttestamentlichen Zitate gleichsam als Wahrsagungen verstanden, als Prophezeiung, die bei Jesus eingetreten sei. Ein solches mythologisches Weltbild haben wir heute nicht mehr, und wir brauchen es auch nicht zu haben, um zu verstehen, was uns die Bibel sagen will.

In der Schrift, in der Hebräischen Bibel, dem heiligen Buch des Judentums, sind die Erfahrungen gesammelt, die Menschen über Jahrhunderte mit dem Gott Israels gemacht haben. Das, was Menschen in diesen Jahrhunderten getragen hat, was sie verstanden haben von dem Gott, der das Leben will, durch alles Leiden hindurch an unserer Seite bleibt und zum Leben befreit, das verdichtet sich noch einmal wie in einem Brennglas in dem Menschen Jesus. In ihm wird noch einmal sichtbar, und zwar endgültig, weil sich Gott an ihn bindet:

Gott will das Leben
Gott bleibt durch alles Leiden hindurch an unserer Seite
Gott befreit zum Leben.

„Es ist vollbracht.“ (Joh 19,30)

Noch einmal Johannes. Es ist in seiner Darstellung das letzte Wort Jesu am Kreuz: wie ein Schlusspunkt – oder musikalisch: ein Schlussakkord.

„Es ist vollbracht“ – das, wozu Jesus auf die Welt gekommen ist, sein Auftrag ist erfüllt.

Er hat das Wort des Vaters gehört und gesagt.

Er hat die Zeichen gesetzt, in denen sichtbar wird, wie Gott diese Welt und unser Leben gemeint hat:

  • wenn genug für alle da ist zum Leben und zum Feiern, wie bei der Hochzeit von Kana und bei der Speisung der 5000
  • wenn Kranke heil werden, wie am Teich Betesda
  • wenn selbst der Tod nicht das letzte Wort hat, wie bei der Auferweckung des Lazarus.

Der Auftrag ist erfüllt. Das heißt aber auch: Nun ist es an den Seinen, dort weiterzumachen, wo er aufgehört hat. Noch werden sie dazu nicht in der Lage sein, nicht am Karfreitag. Aber auch im Johannesevangelium wird das letzte Wort Jesu am Kreuz nicht das letzte Wort des Herrn sein.

„Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände!“ (Lk 23,46)

Das letzte Wort Jesu am Kreuz in der Darstellung des Lukasevangeliums führt uns zurück in die Grundstimmung der Versöhnung, die wir schon in den ersten in dieser Reihe der sieben Worte vernommen haben. Der Gekreuzigte hat seinen Peinigern vergeben, er hat dem Verbrecher das Paradies zugesagt, und nun überlässt er sich den Händen seines Vaters.

Und wieder wird Jesus aus der Überlieferung des jüdischen Glaubens geschöpft haben. Diese Wurzeln sind für ihn nicht verdorrt, diese Quellen sind nicht versiegt. Wieviel liebevolle Geborgenheit strömt doch aus diesem Bild von den Händen Gottes:

„In die Hände habe ich dich gezeichnet“, sagt Jesaja über Gottes liebevolles Denken an Jerusalem.

„Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir“, bekennt staunend der Psalmist.

Das Sterben Jesu wird damit zum Hoffnungsbild, wie es gelingen kann, unsere Sterblichkeit anzunehmen: Auch wir können einverstanden sein. Auch wir können uns fallen lassen, selbst wenn es uns wie ein Fallen ins Bodenlose vorkommt: Gottes Hände werden uns auffangen.

„Il terremoto“ – das Erdbeben (Mt 27,51-53)

Joseph Haydn lässt diesen sieben letzten Worten Jesu noch einen Satz folgen: „Il terremoto“ – Das Erdbeben. Nein, der Karfreitag endet nicht einfach nur still und versöhnlich. Das, was da geschehen ist, bringt die gewohnte Ordnung durcheinander – da bleibt kein Stein auf dem andern. Wie könnte auch alles bleiben, wie es ist, wenn Gott sich nicht mehr damit begnügt, vom sicheren Platz im Himmel auf die Erde herabzusehen, sondern sich dem Wahnsinn von Hass und Gewalt, der die Menschen beherrscht, selbst aussetzt. Da zerreißt die saubere Trennung von „heilig“ und „profan“, da zerreißt der Vorhang im Tempel, der das Allerheiligste, den Ort von Gottes Anwesenheit, abschirmt. Gott wird angreifbar, zugänglich, ja: verletzlich – außerhalb des christlichen Glaubens eine vollkommen unmögliche Vorstellung.

Seit dem Karfreitag gibt es keinen Ort der Gottesferne mehr, weil er selbst am Ort der größten Gottverlassenheit, selbst im Tod da ist. Kein Wunder, dass das auch den Toten keine Ruhe lässt und Matthäus in einem apokalyptischen Bild erzählt, wie sich die Gräber auftun. Allerding, er fällt sich gleichsam selbst ins Wort: Rasch ergänzt er „nach seiner Auferstehung“.

Ja, das Drama des Karfreitags ist noch nicht zu Ende, so lange das Kreuz uns erinnern muss an Gewalt, Hass und Morden, das sich auch heute vor unseren Augen abspielt. Das Drama des Karfreitags ist aber auch noch nicht zu Ende, weil uns die Botschaft, dass der Tod endgültig besiegt ist, erst noch gesagt werden muss.