Was macht ein Leben lebenswert?

[01.04.2021]

In Zeiten des Lockdowns ist mir die Bibellektüre sehr ans Herz gewachsen. Begierig lese ich Kapitel um Kapitel. Aber auch andere Literatur ist mir sehr willkommen, wie zum Beispiel eine Biographie über Sophie Scholl. Nahezu geistige Höhenflüge tun sich dabei auf. Aber es gibt auch so Tage, da ist es sehr angenehm, „wie a gstingats Gsöchts“ auf dem Sofa zu liegen und sich mit den Netflix-Freuden zu vergnügen. Und nachdem eine gewisse Zeit verstrichen war, stieß ich auf die Dokumentation: „The Minimalists Less Is Now“. Ich habe sie mir angesehen, ich war begeistert. Grund genug, die in der Dokumentation beschriebene Lebensphilosophie vorzustellen.

Soziales Glück statt materiellem Überfluss

Der Minimalismus im modernen Kleid wird besonders durch zwei Persönlichkeiten verkörpert: Joshua Fields Millburn und Ryan Nicodemus. Millburn (1981) stammt aus Ohio, er wuchs hauptsächlich bei seiner Mutter in sehr ärmlichen Verhältnissen auf. Mit 18 Jahren schmiss er das College hin und arbeitete fortan in einem Handelsvertrieb. Er arbeitete sich die Karriereleiter steil nach oben und wurde mit 28 zum jüngsten Abteilungsleiter seiner Firma. 2009 starb seine Mutter und für den jungen Karrieristen brach eine Welt zusammen. Nicodemus wurde 1981 in Knoxville (Tennessee) geboren, auch er stammte aus schwierigen familiären Verhältnissen. Er lebte den „American Dream“, aber 2009 wurde ihm plötzlich – vom einen auf den anderen Tag – gekündigt. Er sagt im Nachhinein: „Es war das Beste, das mir je passieren konnte.“ Milburn und Nicodemus lernten sich beide in ihrer Lebenskrisis kennen. Sie unterhielten sich und beschlossen, ihr Leben zu verändern. Ihre Geschichte machten sie auf ihrem Blog „theminimalists.com“ öffentlich.

Der Lebenswandel der beiden Protagonisten ist beachtlich. Es ist nicht bloß ein „Tidying Up“ („Aufräumen“) der eigenen vier Wände, kein Ausmisten ungebrauchter Utensilien a la Marie Kondo. Diese beiden jungen Männer kritisieren das kapitalistische Konsumverhalten. Seien wir uns ehrlich: „The American Way of Life“ hat in Europa und in allen anderen Teilen der Welt schon längst Einzug erhalten. Aus den Jägern und Sammlern sind Konsumenten geworden, die Produkte erwerben, die sie niemals oder nur sehr selten benutzen. Dagegen opponieren die beiden Aktivisten. Ihr „Streben nach irdischem Glück“ möchten sie nicht mehr mit materiellem Überfluss beantworten, sondern sie sehen es in sozialen Beziehungen, also in Familie und Freundschaft.

Sharing Economy

Materieller Besitz ist für Milburn und Nicodemus nicht mehr notwendig. Beide werden in der Dokumentation gezeigt, wie sie durch ihre minimal eingerichteten Wohnungen oder über kahle Landschaften streifen. An ihren Körpern befindet sich kein Firlefanz, nur die Millennial- Standardausrüstung: Eng anliegende T-Shirts, Jeans und Kopfhörer. Sie verkörpern damit ein neues Lebensgefühl, einen neuen Trend: Raus aus der „New Economy“ der 2000er-Jahre hin zur neuen „Sharing Economy“. Es geht nicht mehr darum, Dinge eines Tages zu besitzen, sondern es geht darum, Ressourcen und allfälliges „Zeugs“ bestmöglich zu nutzen und nach Möglichkeit zu teilen. Das Besondere an dieser neuen Lebensphilosophie ist, dass sie sich gut mit den politischen beziehungsweise ökologischen Bestrebungen der „Generation Y“ kombinieren lässt. Die „Sharing Economy“ steht aber erst in den Kinderschuhen, da die digitale Entwicklung nur langsam Fahrt aufnimmt.

Mündet die Ablehnung „materieller Werte“ letztendlich in einen asketischen Verzicht auf die Freuden, die das Leben so zu bieten hat? Eher nicht. Es geht vielmehr um solche Fragen: Ist es notwendig, als Nichtgolfer eine vollständige Golfausrüstung zu besitzen? Warum stehen in meinem Wohnzimmer Bücher herum, die seit über 10 Jahren nicht einmal aufgeschlagen wurden? Wie viele Küchengeräte habe ich eigentlich? Damit keine Missverständnisse verstehen: Es geht nicht darum, sich von hochgeliebten Dingen zu trennen. Der ungenutzte materielle Überfluss ist der erklärte Feind. Bücherwürmer, Hobbyköche oder Briefmarkensammler können aufatmen.

Mitten in einer Revolution

Bereits Einzug gehalten hat die „Sharing Economy“ im multimedialen Spektrum. Filme werden nicht mehr gekauft, sie werden zusehends „gestreamt“. Wer kauft sich heute noch Musik oder Filme auf Compact Discs, abgesehen von der Altersgruppe Ü40? Diese Medien werden nicht mehr in Form von Datenträgern besessen, sie werden über „Streaming- Plattformen“ im Internet geliehen. Es zeigt sich einmal mehr, dass materieller Verzicht keine Selbstkasteiung ist. Im Gegenteil. Er ist zum Statussymbol geworden. Ein vollständig digitalisiertes, also papierloses, Büro ist heute das, was in den 90ern die „Lavalampe“ in allen Wohnungen war – das „Non plus ultra“.

Bei der „Sharing Economy“ handelt es sich aber nicht um ein Hirngespinst einiger weniger Aktivistinnen und Aktivisten, sondern es geht um knallharten wirtschaftlichen Wandel. Dies belegt exemplarisch folgende Zahl: Mittlerweile haben 63 % der Deutschen ein Amazon-Prime-Konto. Das sind mehr Menschen, als die evangelischen und katholischen Kirchen in Deutschland zusammen Mitglieder haben. In Österreich wird sich diese Entwicklung sehr ähnlich gestalten.

Lebenswertes Leben

Man kann den „Minimalismus“ sicherlich nicht per se mit der Sharing Economy gleichsetzen. Und Jeff Bezos (Amazon-Chef) ist nicht die Verkörperung der Sharing Economy. Das wäre zu kurz gegriffen. Vielmehr gilt es, die inhaltliche Lücke des „Minimalismus“ hervorzuheben. Es ist lobenswert, wenn Menschen auf überbordenden materiellen Besitz verzichten und zunehmend ihr soziales Glück suchen. Die Krux der ganzen Sache liegt im Verzicht auf den Verzicht. Konsumentinnen und Konsumenten haben ja nicht Musik-Streamingdienste in Anspruch genommen, weil sie der Vielzahl ihrer Compact Discs überdrüssig geworden wären. Sie haben Musik-Streaming-Dienste in Anspruch genommen, weil sie mit einer monatlichen IO€-Flatrate plötzlich über 60 Millionen Musikstücke hören konnten – überall und mit geringerem technischen Aufwand.

Die Postulierung des Prinzips, man hätte materiellem Besitz abgeschworen, da man mit Weniger zurechtkäme, übertüncht letztendlich ein gesteigertes Konsumverhalten. Materieller Verzicht im ausgleichenden digitalen Überfluss ist Sklave des Diktates: „Immer mehr, immer billiger, immer schneller“. Minimalismus mag eine interessante Philosophie sein, die möglicherweise das Leben ihrer Anhängerschaft lebenswerter macht. Minimalismus und digitaler Überfluss ist hingegen ein Widerspruch in sich.

Thomas Müller
Vikar