Krisen als Chance (2/3)

[30.09.2021]

Krankheit als Chance

Ende 2018 kam für mich mein größter „LebensCrash“. Leichte Signale kündigten sich schon Monate vorher an, aber ich habe diesen keinerlei Beachtung geschenkt. Die Folge: über einen Zeitraum von sechs Monaten mehrwöchige Auf- enthalte auf der Neuroinfektion im Doppler Klinikum und eine längerer REHA in der Neurocare. Diagnose: Seltene Autoimunerkrankung, die eine Gehirnentzündung im lymbischen System und epileptische Anfälle auslöst. Dank der einfühlsamen und professionellen Hilfe, angefangen von den Putzfrauen über die Diplom- KrankenpflegerInnen bis hin zu den Ärzt*nnen, war das eine Zeit, in der ich mich sehr aufgehoben, liebevoll gepflegt und auch mit meinen „Eigenheiten“ akzeptiert – und vielleicht auch geschätzt fühlte.

Ich wurde lahm gelegt, mit Cortison und anderen Medikamenten vollgepumpt, damit die Entzündung im Gehirn rasch ausheile. Die Misere bekam ich gar nicht so richtig mit und kam auch nie auf die Idee, dass diese Krankheit sehr schlecht hätte ausgehen können. Dass ich meine Kinder nicht mehr erkannte, sie mich fütterten – was dies für sie bedeutete, daran hatte ich keine Gedanken verschwendet. Meine Verrücktheiten gegenüber meinem Mann und meiner Mutter waren mir nicht bewusst. Auch an den Besuch von unserem lieben Pfarrer Peter konnte ich mich nicht mehr erinnern, obwohl er mir gesagt hatte, ich hätte mich sehr gut mit ihm unterhalten.

Zwischen den Krankenhausaufenthalten durfte ich immer wieder nach Hause, und vor allem in dieser Zeit kämpften mein Körper und Geist mit dem Ziel, wieder ganz die „Alte“ zu werden. Ich wollte unbedingt zum Kurlaub, demonstrierte für „Fridays For Future“, wollte für meine Familie eine funktionierende Mutter, Frau und Tochter sein oder nur einfach alleine mit dem Zug fahren und ohne Missgeschicke selbstständig kochen und meinen Alltag bewältigen können. Bei allen, aber wirklich allen Anstrengungen war die Folge, dass ich danach mehrere Tage benötigte, um mich wieder von den einzelnen Aktionen zu erholen. Hatte ich nicht schon genug „Hammerschläge auf mein Köpfchen bekommen“ – nein, das Menschlein Karin wollte weiterkämpfen – und vor allem da ansetzen, wo sie aufgehört hatte. Eine Zeit, in der ich meine Krankheit überhaupt nicht als Chance habe sehen können. Im Laufe der Zeit hat sich das „Umdenken“ langsam entwickelt: Die Klarheit aus „Was will ich?“ hin zu einem „Was kann ich?“. Damit konnte ich vielleicht zum ersten Mal meine „Krankheit als Chance“ sehen, um mein Leben neu zu ordnen, indem ich meine Messlatte weiter unten ansetzte und mit diesen Ansprüchen auch zufrieden sein konnte und sie zu akzeptieren lernte.

Als Peter mich fragte, ob ich über „Krankheit als Chance“ schreiben würde, sagte ich: „Klar, mache ich“. Aber während meiner Auseinandersetzung mit meiner Krankheit und dieser Fragestellung wurde mir erst klar, was das eigentlich für ein sensibles Thema ist und jeder Mensch nur von sich berichten kann. Fast wollte ich mich gar nicht mehr mit dem Problem beschäftigen.

Aufgrund der positiven Entwicklung meiner Erkrankung kann ich mit „Krankheit als Chance“ etwas anfangen. Für mich ist es nicht vorstellbar, wie Menschen ihre Krankheit als Chance wahrnehmen können, wenn diese einen schlechten Ausgang nimmt.

Ehrlich, liebend gerne hätte ich auf diesen Lebenseinschnitt verzichtet und mir und meinen Lieben das Ganze erspart. Immer wieder noch komme ich an meine Grenze, bahnen sich Rückschläge an – Symptome und Erinnerun- gen an die Krankheit – wo sich in mir eine große Angst einschleicht und ich auf die Jahre hin lernen muss, wie ich mit solchen Situationen umgehen kann.

Meine allergrößten Chancen möchte ich nun hier kurz aufzählen:

  • Mein Riesenglück, wieder schon fast gesund zu sein und ein „normales“ Leben führen zu dürfen.
  • Ein gewisses Gottvertrauen und eine neue Fokussierung auf wesentliche Dinge meines Lebens.
  • Meinen Interessen und Fähigkeiten mehr Bedeutung zu geben.
  • Die Freude meiner Mitmenschen, wenn sie sehen, dass es mir so viel besser geht.
  • Einen Gang runterzuschalten.
  • Hilfe annehmen zu können.
  • Allzu großen Stress meiden – und mich diesem nahenden Stress vorher entziehen.
  • Und am wichtigsten: ganz allmählich zu lernen, auch einmal NEIN und STOPP zu sagen, was in manchen Betroffenen vielleicht auch einen kleinen Lernprozess auslöst …

Karin Landwehr