Krisen als Chance (3/3)

[01.10.2021]

Jede Krise birgt eine Chance


Wer von uns ist nicht als Kind irgendwann einmal ordentlich hingefallen oder beim Klettern vom Baum gefallen und unsanft am Boden gelandet! Oder hat sich bei den ersten Radfahrversuchen blutige Knie geholt! Und was ist dann passiert? Wir sind in Tränen ausgebrochen und haben um Hilfe geschrien, die meist unmittelbar in Form von Mama, Papa oder einer anderen uns vertrauten Person herbeigeeilt ist. Die Wunde wurde versorgt und was mich bis heute fasziniert: Tröstend in den Arm genommen waren die Tränen im Nu versiegt und der Schmerz bald vergessen. Und umgehend wurde ausprobiert, was trotz Verletzung noch alles möglich ist – z.B. gleich nach dem Eingipsen der Hand wieder mit dem Fahrrad weiterzufahren…

Warum gelingt es Kindern in den meisten Fällen besser und vor allem schneller als Erwachsenen, aus krisenhaften Situationen herauszukommen? Weil sie – in der Regel –

  • sofort um Hilfe rufen
  • darauf vertrauen, dass ihnen sofort jemand zur Hilfe eilt
  • sie nicht lange in der krisenhaften Situation verweilen, sondern sich darauf fokussieren, rasch wieder ihre geliebte Tätigkeit aufnehmen zu können
  • weil sie Mittel und Wege finden, trotz Verletzung wieder ins Tunzu kommen – dabei sehen sie weniger die durch ihre Verletzung eingeschränkte Bewegungsfähigkeit als die oft mit viel Kreativität gefundenen Lösungsmöglichkeiten.Den Prozess, in dem jemand auf Herausforderungen und Veränderungen in seinem Leben mit adäquater Anpassung seines Verhaltens reagiert, nennt man Resilienz. Personen, die über Resilienz verfügen, haben gelernt, nicht lange in Krisensituationen zu verharren, sondern Schritte in die Wege zu leiten, um aus ihrer misslichen Lage wieder herauszukommen. Wie aber wird man resilient und kann man diese Fähigkeit trainieren?

Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass der Grundstein für die Resilienz eines Menschen im Kindheitsalter gelegt wird. Kinder, die in ihren ersten Lebensjahren dabei begleitet wurden, eigene kreative Wege zur Lösung ihrer Probleme zu finden, tun sich später im Leben bei der Bewältigung von Krisen wesentlich leichter. Es können aber auch Erwachsene ihre Resilienz noch verbessern, wenn sie es in Krisensituationen schaffen, ihre Denk- und Verhaltensmuster in folgenden wichtigen Punkten zu ändern:

  • Sie müssen darauf vertrauen, dass sie ihre Probleme lösen können und dass die Krisensituationen, in denen sie stecken, keine unumgänglichen Schicksalsschläge, sondern lösbare Aufgaben sind.
  • Sie müssen erkennen und akzeptieren, dass sie nicht für jedes Problem sofort eine Lösung haben. Vielmehr müssen sie lernen, ihre Schwächen zuzugeben und andere Menschen um Hilfe zu fragen.
  • Sie müssen lernen, sich mehr auf die Lösung als auf das Problem, das für ihre krisenhafte Situation verantwortlich ist, zu konzentrieren. Und sie müssen selber aktiv daran arbeiten, um aus der misslichen Lage wieder herauszukommen. Jede*r von uns hat schon Lebenskrisen bewältigt und weiß, wie schwer es fällt, sich selbst zu obigen Denk- und Verhaltensmustern zu motivieren, vor allem dann, wenn es einem gerade richtig schlecht geht. Am schwersten fällt es den meisten Menschen, sich selber einzugestehen, dass es ohne die Hilfe anderer nicht mehr geht. „Ich möchte ja niemandem zu Last fallen mit meinen Problemen…“, „ich schaffe das schon irgendwie…“ – wie oft höre ich das in meinen Beratungsgesprächen! Nur mit sehr viel Einfühlungsvermögen und Empathie gelingt es dann, diese Menschen davon zu überzeugen, dass sie es „nicht allein schaffen müssen“, sondern sich auch Hilfe von unserer Pfarrgemeinde holen dürfen. Und so manche Klient*innen haben auch schon unser gut gemeintes Hilfsangebot abgelehnt… Jede Krise birgt eine neue Chance – eine Chance auf positive Veränderung oder auf einen Neubeginn. Um diese Chance zu nutzen, müssen wir allerdings in unserem Denken und Handeln von Krisenbewältigung auf Zukunftsorientierung umschalten. Das bedeutet im Zusammenhang bei- spielsweise mit der Corona-Krise: Nicht „zurück zur alten Normalität“, sondern „Erhalt und Ausbau dessen, was zur guten Bewältigung dieser Krise beigetragen hat“. Denke ich an diejenigen Menschen, mit denen ich in meiner Funktion als Diakoniebeauftragte in Kontakt trete, dann geht es beispielsweise um folgende neue Denkansätze in der Beratung und Betreuung von in Not geratenen Menschen – und das nicht nur während möglicher erneuter Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen, sollten im Herbst die Corona-Erkrankungszahlen wieder stark zunehmen, sondern nachhaltig und unabhängig davon:
  • Wie können wir „digitaler Armut“ entgegenwirken? Können wir unsere Beratungs- und Betreuungsangebote so ausbauen, dass wir künftig auch diejenigen Menschen digital erreichen, die weder über die notwendigen technischen Geräte noch über das notwendige technische Wissen verfügen, um unsere Angebote auch in Anspruch zu nehmen, wenn ein persönliches Treffen nicht (mehr) möglich ist? Welche neuen Wege werden wir als Pfarrgemeinde in diesem Punkt beschreiten?
  • Wie können wir verhindern, dass sich die mentale und physische Verfassung von Menschen im Alter durch Einsamkeit oder von Kindern und Schüler*innen im Homeoffice durch fehlende Sozial- kontakte verschlechtert? Welche alternativen Kontaktaufnahmen, die wir in den letzten Monaten entwickelt haben, wollen wir beibehalten bzw. ausbauen?
  • Und welche Maßnahmen können wir entwickeln, um geflüchtete Menschen, die im möglichen nächsten Corona-Lockdown ein weiteres Mal Retraumatisierungen erleiden aufgrund des erneuten „Eingesperrt-Seins“, besser zu begleiten und zu unterstützen? Wie gehen wir um mit ihrer größten Sorge, nämlich ihrer Angst um Familienangehörige in ihrem Heimatland, weil dort Corona- Präventionsmaßnahmen fehlen oder mangelhaft sind?

Meine Schlüsselerfahrung als Diakoniebeauftragte seit Ausbruch der Corona-Pandemie ist, dass die in unserer Pfarrgemeinde vorhandenen Ressourcen noch rascher mobilisiert werden konnten als vor dieser Krise. Meine Aufrufe mit der Bitte um Unterstützung in Form von Sach- und Geldspenden oder persönliche Mithilfe (z.B. bei Transporten oder dem Anschließen von Haushaltsgeräten) auf unserer Homepage waren meist binnen 1 – 2 Tagen positiv erledigt. Diese schnelle Mobilisierung der Hilfe ist eine ganz besondere Stärke unserer Pfarrgemeinde und trägt dazu bei, dass Menschen in Notsituationen neuen Mut fassen können und resilienter werden. Rasches Reagieren fängt beim Rundmail durch unseren Pfarrer Peter Gabriel und die gleichzeitige Platzierung auf unserer Homepage durch Herrn Meisl an und endet bei Ihren/euren umgehenden Rückmeldungen auf meine konkreten Anfragen….

Krisen heben unser Leben aus den Angeln. Es braucht diese Krisen, um zu erkennen, dass wir mit dem, wie es gerade abläuft, nicht weiterkommen und vor allem nicht wachsen können. Die größte Chance der Corona Krise sehe ich in der „erzwungenen Ruhe“: Wir konnten die Zeit nutzen, um uns selber besser kennen zu lernen und herauszufinden, was uns stärkt und was wir brauchen, um die neuen Herausforderungen zu meistern, uns neue Ziele zu setzen. Und wir haben gelernt, auch kleine Erfolge zu feiern (…“juhu, Familientreffen sind wieder möglich“…) und kreative Lösungen zuzulassen.

In der Nachfolge Jesu sind wir in der Bewältigung schwieriger Lebenssituationen nicht allein – wir dürfen darauf vertrauen, dass ER uns zur Seite steht, gerade dann, wenn wir es am wenigsten erwarten. Es liegt an uns, SEINE Hilfe anzunehmen und darauf zu vertrauen, dass jede Krise auch eine Chance in sich birgt. Wir müssen sie nur ergreifen!

Edda Böhm-Ingram, Diakoniebeauftragte